Identität (German Edition)
es begann ihr erst langsam aufzugehen.
Sie schaute hinunter auf ihr rosa T-Shirt, auf ihre von einem Sport-BH flachgedrückten Brüste.
«Das ist nicht wirklich das Haus, in dem du aufgewachsen bist, stimmt’s?», sagte sie, und ihre Stimme fühlte sich ebenso flach und gepresst an. «Das Lighthouse Motel. Alles, was du mir erzählt hast. Dieses Bild. Das war gar nicht deine Großmutter.»
«Hmm.» Er hob die Finger von ihrem Oberschenkel und machte eine unbestimmte Geste, eine wedelnde apologetische Bewegung. «Es ist kompliziert», sagte er bekümmert. «Darauf läuft’s immer hinaus. Alle machen ein Wahnsinnsaufheben um die Frage, was wirklich ist und was nicht.»
«Stimmt», sagte Lucy. «Die Leute sind schon komisch.»
Aber George Orson schüttelte nur den Kopf, als kapierte sie es nicht.
«Das mag jetzt für dich unglaublich klingen», sagte er, «aber die Wahrheit ist: Ein Teil von mir ist wirklich dort aufgewachsen. Es gibt nicht nur eine Version der Vergangenheit, weißt du. Vielleicht erscheint dir das verrückt, aber zu guter Letzt, wenn wir das hier eine Zeitlang gemacht haben, wirst du es, glaub ich, begreifen. Wir können jeder sein, der wir sein wollen. Ist dir das klar? Und darauf läuft das Ganze nur hinaus», sagte er. «Es hat mir große Freude gemacht, George Orson zu sein. Ich habe jede Menge Gedanken und Energie darein investiert, und es war kein Schwindel. Ich habe nicht versucht, dich zu täuschen. Ich habe es getan, weil ich es schön fand. Weil es mich glücklich gemacht hat.»
Und Lucy stieß einen kleinen, unsicheren Seufzer aus und dachte: eine Heerschar von Gedanken.
«Warum sollte jemand Highschool-Lehrer werden wollen?», sagte sie endlich. Es war der einzige unter den vielen Gedanken, der sich artikulieren ließ. «Das klingt überhaupt nicht lustig.»
«Nein, nein», sagte George Orson, und er lächelte sie ermunternd an, als sei das genau die richtige Frage gewesen – als säßen sie wieder im Klassenzimmer und diskutierten über den Unterschied zwischen Existenzialismus und Nihilismus, als hätte sie die Hand gehoben, und sie wäre seine Lieblingsschülerin, und er freute sich schon maßlos darauf, ihr zu antworten.
«Das war eines der besten Dinge, die ich je gemacht habe», sagte er. «Dieses Jahr in Pompey. Ich wollte schon immer Lehrer werden, schon als Kind. Und es war toll. Es war eine phantastische Erfahrung.»
Er schüttelte den Kopf, als wäre er davon noch immer ganz verzückt. Als ob die Highschool ein exotisches fremdes Land gewesen wäre.
«Und», sagte er, «ich habe dich kennengelernt, und wir haben uns ineinander verliebt, oder nicht? Verstehst du nicht, Süße? Du bist der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich je wirklich habe reden können. Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mich liebt.»
Hatten sie sich tatsächlich ineinander verliebt? Tja, vermutlich schon, obwohl das jetzt wie ein ziemlich schräger Sachverhalt erschien, da sich gerade herausgestellt hatte, dass «George Orson» nicht mal eine reale Person war.
Wenn sie darüber nachdachte, wurde ihr schwindlig und übel. Nahm man alle Einzelteile weg, die George Orson ausmachten – seine Kindheit im Lighthouse Motel, sein Elite-Studium, seine lustigen Anekdoten und seine zärtliche, aufmerksame Anteilnahme, die er Lucy als seiner Schülerin entgegengebracht hatte: Wenn das alles eine bloße Erfindung war, was blieb dann übrig? Vermutlich steckte irgendjemand im George-Orson-Kostüm, eine wirkliche Person, zwei Augen, die daraus hervorschauten, eine Seele, konnte man vielleicht dazu sagen, auch wenn sie noch immer nicht wusste, wie der wirkliche Name dieser Seele lautete.
Für welchen von beiden empfand sie etwas? Für die Figur «George Orson» oder für den Menschen, der diese Figur erschaffen hatte? Mit welchem von beiden hatte sie Sex gehabt?
Es war ein bisschen so wie mit diesen Wortspielen, die George Orson so gern der Klasse vorgesetzt hatte – «seltsame Schleifen» hatte er sie genannt. Halte in allem Maß, auch im Maßhalten , sagte er. Oder: Ich sage nie die Wahrheit . Ist die Antwort auf diese Frage «nein»?
Sie sah noch das Grinsen vor sich, mit dem er das gesagt hatte. Das war, bevor sie auch nur geahnt hatte, dass sie seine Freundin werden würde, lange bevor sie sich hätte vorstellen können, dass sie einmal mit einer gefälschten Geburtsurkunde und einem gebuchten Flug nach Afrika zu einem Postamt in Nebraska fahren würde. «Ich sage nie die
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