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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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existiere ich praktisch nicht.»
    «Wow», sagte Mike Hayden, und wieder sah Jay das Auge, das im Spiegel seinen Blick erwiderte. Ein überraschend trauriges, mitfühlendes Auge, dachte Jay, aber auch verunsichernd. «Wow», sagte Mike. «Das ist eine unglaubliche Geschichte.»
    «Ist wohl so», sagte Jay.
    «Tragisch.»
    «Tja, dazu kann ich nichts sagen», sagte Jay, und er zuckte die Schultern. Um ehrlich zu sein, wusste er nicht so genau, wie er sich fühlen sollte – hier in der luxuriösen, kostspieligen Zelle des Lexus; zusammen mit diesem unerwarteten Mike Hayden, der ein Sportjackett trug, manikürte Nägel und förmliche Manieren hatte und ihn über seine Privatangelegenheiten ausfragte.
    Als sie angefangen hatten, miteinander zu telefonieren, hatten sie ein paar sehr lange persönliche Gespräche geführt – nicht nur über geschäftliche Ideen, sondern auch über ihr Leben. Er hatte von Mikes Kindheit erfahren, vom Vater, der Hypnotherapeut gewesen war und, als Mike dreizehn war, Selbstmord begangen hatte; vom gewalttätigen Stiefvater; vom Zwillingsbruder, der jedermanns Liebling gewesen war, der nichts falsch machen konnte, während Mike praktisch unsichtbar war.
    «Ich stand meinem Vater sehr nah, und nach seinem Tod fühlte ich mich einfach wie ein Fremder in meiner eigenen Familie», erzählte ihm Mike. «Es kam mir so vor, als wären sie ohne mich glücklicher gewesen, also bin ich gegangen. Ich habe sie nie wiedergesehen, und ich werde sie wahrscheinlich auch nie wiedersehen.»
    «Ich weiß, was du meinst», sagte Jay. «So war das bei mir zu Hause auch. Stacey war zehn Jahre älter als ich, und sie war immer die Starschülerin. Was waren die alle stolz, als sie ihren Abschluss in Buchführung machte. Eine Scheißbuchhalterin! Und von mir wurde erwartet, dass ich auf die Knie fiel und ‹oooh› und ‹aaah, wie eindrucksvoll!› sagte.»
    Mike Hayden fand das irrsinnig komisch.
    «‹Oooh› und ‹aaah, wie eindrucksvoll!›», wiederholte er und ahmte dabei Jays Ton nach. «Mann, du machst mich fix und fertig!»
    Mike Hayden war der Ansicht, dass Jay sich mit seinem Sohn in Verbindung setzen sollte. Dass man Ryan die Wahrheit über seine Adoption und alles Übrige sagen sollte.
    «Ich meine, dass er Anspruch darauf hat, die Wahrheit zu erfahren», hatte Mike Hayden gesagt. «Das ist überhaupt keine coole Situation mit deiner Schwester. Sie ist herrschsüchtig, findest du nicht? Und denk doch nur an den armen Ryan! Wenn die Menschen, die du zu lieben glaubst, dir etwas Wichtiges verheimlichen, ist das ein ziemlich übler Verrat. Das kann eins der Dinge sein, die das Karma der ganzen Welt versauen.»
    «Ich weiß nicht», sagte Jay. «Wahrscheinlich ist es für ihn besser so.»
    Aber in gewisser Hinsicht hatte sich Jay diesen Rat durchaus zu Herzen genommen. Tatsächlich dachte Jay, seit er dreißig geworden war, ziemlich oft über diese Situation nach, und Mike Haydens Freundschaft und Ratschläge waren wichtig für ihn.
    Gleichzeitig aber war es ein komisches Gefühl, jetzt darüber zu reden – mit diesem Fremden. Mit diesem jungen, etepetetehaft aussehenden Mike Hayden. Das war immer das Problem mit virtuellen Beziehungen, Internet-Freundschaften, wie immer man sie nennen mochte: Es gab immer diesen Schock, wenn man erkannte, dass die Person, die man sich im Kopf zurechtgelegt hatte – das Bild, der Avatar –, dem realen Menschen aus Fleisch und Blut nicht im Entferntesten ähnelte.
    Er fragte sich, ob es eine so gute Idee gewesen war, Atlanta zu verlassen. Vielleicht, dachte er, hätte er nicht so offen über die Sachen reden sollen, die die Association abzog; vielleicht hätte er nicht einmal seinen Sohn erwähnen sollen. Plötzlich verspürte er ein nadelfeines Unbehagen, als er sich den Jungen, seinen Sohn, vorstellte, der friedlich und ahnungslos in Staceys Haus saß und «sich so gut machte», wie Stacey geschrieben hatte, damals, als Jay zum ersten Mal im Gefängnis saß, als Ryan noch kaum laufen konnte. «Du hast ihm einen großen Gefallen getan, Jay. Vergiss das nicht.»
    Und jetzt wusste Mike Hayden – Breez – von ihm. Jay erinnerte sich wieder an das, was Dylan über Breez gesagt hatte: Der zerstört dein Leben aus purem Jux .
    Er rieb seine feuchten Handflächen an seinen Hosenbeinen, strich sich mit den Fingern durch das Haar. Sie überquerten gerade die Grenze nach Nebraska. Dazu lief irgendeine entsetzliche, sich ständig wiederholende klassische Musik, furchtbares

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