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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Wahrheit», hatte er der Klasse erklärt, war eine Abwandlung des berühmten Paradoxons des Epimenides, und dann hatte er erklärt, was ein Paradoxon war, und Lucy hatte es sich aufgeschrieben für den Fall, dass es in einem Test vorkommen würde, in welchem Fall sie sich damit Extrapunkte verdient hätte.
     
    Sie hatten jetzt fast den Stadtrand von Crawford erreicht, und George Orson – David Fremden – fuhr rechts ran, um den Stadtplan zu konsultieren, den er aus dem Internet runtergeladen hatte.
    Sie parkten vor einem Informationsschild, und nachdem er seine Unterlagen durchgesehen hatte, blieb George Orson noch eine Zeitlang da sitzen und las die Metalltafel interessiert durch.
     
Die nach dem seinerzeit in Fort Robinson stationierten Captain Emmet Crawford benannte Stadt liegt im White River Valley, Pine-Ridge-Land, und stellt das ökonomische und administrative Zentrum eines ausgedehnten, durch Viehzucht und Ackerbau geprägten Gebiets dar. Sowohl der Fort Laramie – Fort Pierre Fur Trail von 1840 als auch der während des Black-Hills-Goldrauschs der 1870er Jahre aktive Sidney – Black Hills Trail verliefen hier durch. Zu den Söhnen und Töchtern beziehungsweise zeitweiligen Bewohnern von Crawford gehörten Persönlichkeiten wie der Sioux-Häuptling Red Cloud; der ehemalige Desperado David (Doc) Middleton; der Dichter-und-Scout John Wallace Crawford; die Wild-West-Heldin Calamity Jane; der Army-Scout Baptiste (Little Bat) Garnier, der in einem Saloon erschossen wurde; Militärarzt Walter Reed, der Überwinder des Gelbfiebers; und Präsident Theodore Roosevelt.
     
    Das war ein trauriges Machwerk, dachte sie.
    Oder zumindest empfand sie es, an diesem Wendepunkt ihres Lebens, als traurig. Was hatte George Orson doch einmal im Unterricht gesagt? «Die Menschen lieben es, sich zu kontextualisieren. Sie haben gern das Gefühl, auf irgendeine kleine, bescheidene Weise mit den Mächten und Mächtigen dieser Erde in Verbindung zu stehen.» Und sie erinnerte sich, dass er dann den Kopf leicht schräg gehalten hatte, als wollte er sagen: Ist das nicht erbärmlich?
    «Die Menschen bilden sich gern ein, ihre Handlungen wären irgendwie von Belang», hatte er verträumt, abwesend gesagt und die Augen über ihre Gesichter gleiten lassen, und sie erinnerte sich, dass sein Blick vor allem auf ihr geruht hatte, und sie hatte sich, leicht geschmeichelt, leicht verwirrt, auf ihrem Stuhl aufgerichtet. Dabei hatte sie seinen Blick erwidert und genickt.
     
    Während sie jetzt daran dachte, legte sich Lucy die Hand an die Kehle, die sich nach wie vor wie zugeschnürt anfühlte. Panisch.
    Die Menschen bilden sich gern ein, ihre Handlungen wären irgendwie von Belang .
    Ihr war eingefallen, dass sich alle Papiere, die ihre, Lucy Lattimores, Identität bestätigten – Geburtsurkunde, Sozialversicherungskarte und so weiter –, in Pompey, Ohio, befanden. Sie lagen noch immer in einer durchsichtigen Plastiktüte in der obersten Schublade der Kommode ihrer Mutter, zusammen mit ihren Babyfußabdrücken und ihrem Impfpass und allen sonstigen Dokumenten, die ihre Mutter für wichtig gehalten hatte.
    Es war ihr unnötig erschienen, als sie und George Orson die Stadt verlassen hatten, irgendetwas davon mitzunehmen, und jetzt, ging ihr auf, besaß sie wahrscheinlich mehr Papiere für Brooke Fremden, als überhaupt für ihr wirkliches Ich existierten.
    Sie fragte sich, was jetzt aus Lucy Lattimore werden würde. Wenn sie künftig nicht mehr aktenkundig wurde, wenn sie nie irgendwo einen Job antrat oder einen Führerschein beantragte, Steuern zahlte, heiratete oder Kinder bekam, wenn sie nie starb – würde sie dann in zweihundert Jahren noch existieren, beziehungslos und ungeklärt in irgendeiner Datenbank in einem Bundesamt für unzustellbare Briefe? Würde man irgendwann beschließen, sie aus sämtlichen amtlichen Personenregistern zu löschen?
     
    Was, wenn sie jemanden anrufen würde? Was, wenn sie ein allerletztes Mal mit ihren Eltern sprechen und ihnen sagen könnte, dass sie allein und pleite und im Begriff war, unter falschem Namen nach Afrika zu fliegen? Was für einen Rat würden sie ihr geben? Was würde sie überhaupt fragen?
    Mom, ich überleg mir, nicht mehr zu existieren, und ich wollte nur deine Meinung dazu hören .
    Der Gedanke brachte sie fast zum Lachen, und David Fremden drehte sich um, als hätte er eine Bewegung wahrgenommen. Aufmerksam und dadmäßig.
    «Wie auch immer», sagte er. «Ich denke, wir sollten

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