Identität (German Edition)
keine Ahnung, dass du ein Kind hast! Das ist ja Wahnsinn!»
«Ja», sagte Jay, und er setzte sich um. «Einen Sohn. Aber es ist kompliziert. Ich habe ihn, also, zur Adoption freigegeben, gewissermaßen. Meiner Schwester überlassen. Er weiß nicht, dass ich. Dass ich sein Dad bin.»
«Wow», sagte Mike Hayden. «Das muss ja hart sein.»
«Er heißt Ryan», sagte Jay – und es war irgendwie nett, das jemandem zu sagen, sodass er kurz ein warmes, väterliches Gefühl in sich verspürte. «Er ist ein Teenager. Ist das zu fassen? Mir kommt es völlig unglaublich vor.»
«Das ist cool», sagte Mike Hayden. «Es muss ein tolles Gefühl sein – einen richtigen Sohn zu haben!»
«Ist es wohl», sagte Jay. «Er hat von alldem keine Ahnung. Es ist eher wie ein furchtbares Geheimnis zwischen mir und meiner Schwester. Um ehrlich zu sein, fühlt es sich meist nicht mal für mich selbst wirklich an. Eher so, als wäre das ein Paralleluniversum oder so.»
«Hmm», sagte Mike Hayden. «Weißt du was, Jay? Mir gefällt deine Art zu denken. Ich hätte Lust, dich persönlich kennenzulernen. Soll ich dir ein Flugticket besorgen?»
Jay sagte nichts. Aus dem Wohnzimmer drang das meckernde Lachen seiner Hausgenossen. Sie amüsierten sich gerade über einen neuen Jux, den sie sich kürzlich ausgedacht hatten und bei dem es um digital bearbeitete Fotos einer prominenten Dame ging. Seit Wochen hatten sie nicht einen Cent verdient.
Mike Hayden redete währenddessen weiter über Ryan. «Mann, ich wünschte, ich hätte einen Sohn!», sagte er. «Das würde mich echt glücklich machen. Alles, was mir noch bleibt, ist mein Zwillingsbruder, und der ist in letzter Zeit eine ziemliche Enttäuschung gewesen.»
«Tut mir leid», sagte Jay und zuckte die Schultern, obwohl ihm klar war, dass Mike Hayden das durch das Telefon nicht sehen konnte. «An Beziehungen dieser Art muss man wahrscheinlich arbeiten, stimmt’s? Man kann nichts für selbstverständlich nehmen.»
«Das ist wahr», hatte Mike Hayden gesagt. «Sehr wahr.»
Und da war Jay jetzt. Eine Woche später verließen er und Mike Hayden Denver in östlicher Richtung, er und Breez, er und der Zerstörer fuhren durch Colorado, und Jay war praktisch entschlossen, seine ehemaligen Hausgenossen zu verraten.
Das bereitete ihm keine allzu großen Gewissenskonflikte. Sie waren echte Arschlöcher, dachte er, aber er konnte ein nervöses Kribbeln nicht unterdrücken, als der Himmel sich über der Interstate 76 verfinsterte und sie durch die dichten Dampfschwaden fuhren, die aus der Zuckerraffinerie direkt hinter Fort Morgan quollen. Ein Schwarm von Staren erhob sich in einer langen, strömenden Formation aus einem Feld. Es war so, als hätte sich die Welt dazu verschworen, möglichst ominös zu erscheinen.
Er bückte sich, hob seinen Rucksack auf und rutschte ein Stück nach rechts. Es war ihm unangenehm, im Fond zu sitzen, so als sei Mike Hayden ein Taxifahrer oder Chauffeur, aber Mike selbst schien nicht das Geringste dabei zu finden.
«Also, wie geht’s deinem Sohn?», fragte Mike Hayden, und als Jay aufschaute, konnte er Mikes Augen im Rückspiegel sehen.
Er zuckte die Schultern. «Gut», sagte er. «Nehm ich an.»
Es war irgendwie peinlich. Obwohl es gleichzeitig niemanden sonst auf der Welt gab, mit dem er bislang über dieses Thema geredet hätte.
«Ich weiß es nicht», sagte er endlich. «Wir – also, um ehrlich zu sein, Mike, habe ich noch nie mit dem Jungen gesprochen. Weißt du, nachdem meine Schwester ihn adoptiert hat … da hatte ich gewisse Probleme. Ich war kurze Zeit im Gefängnis. Und meine Schwester, Stacey. Wir hatten einen gewaltigen Streit, hauptsächlich wegen – also, dass sie nicht wollte, dass er Bescheid weiß. Sie sah nicht ein, warum man ihn verwirren sollte, was ich auch verstehe, irgendwie, obwohl – es ist nicht leicht für mich, das auf die Reihe zu kriegen.»
«Dann – hat er dich tatsächlich nie gesehen?», sagte Mike Hayden.
«Nicht direkt», sagte Jay. «Meine Schwester und ich haben zuletzt miteinander gesprochen, als er ungefähr ein Jahr alt war. Ich bezweifle, dass er seitdem auch nur ein Bild von mir gesehen hat, außer von mir als Kind. Meine Schwester ist da echt knallhart gewesen. Wenn die mit einem Schluss macht, dann macht sie Schluss, und das war’s. Ich hab einmal versucht, sie anzurufen. Du weißt schon, ich war neugierig. Ich dachte einfach, ich könnte dem Jungen Hallo sagen, aber sie wollte nichts davon wissen. Für Ryan
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