Identität (German Edition)
kritisch im Badezimmerspiegel. Er hatte kein Doppelkinn, aber fast – es sei denn, er hielt das Kinn sehr hoch. Und rumpfmäßig war er immerhin so dick, dass er einen Ansatz von Brüsten und eine runde babyweiche Wampe hatte. Wie peinlich! Auf der Ablage über dem Waschbecken stand eine Miniaturreiseflasche Mundspülung, und er goss einen Fingerbreit davon in ein Glas und spülte sich damit den Mund aus.
Sie war durch und durch verrückt, vermutete er. Wahrscheinlich war das überhaupt der Grund, warum sie mit ihm geschlafen hatte. Er betrachtete sein Gesicht und strich sich mit der Hand über das ungebärdige Haar und mit den Fingern durch den dichten, krausen Bart.
Sie war genauso besessen wie er, wenn nicht noch mehr – verschwörungsorientierter, methodischer, organisierter, professioneller . Es sprach einiges dafür, dachte er, dass sie Hayden vor ihm finden würde.
Er ließ etwas Wasser in das Waschbecken laufen und benetzte sich damit die Wangen.
Und sie war sehr attraktiv. In vielfacher Hinsicht, wie er vermutete, eine ganz andere Liga als er. Er dachte wieder an das Foto, das sie ihm gezeigt hatte, das Bild von Hayden und Rachel Barrie, an dieses leere Gefühl in der Magengrube, als er ihre glücklichen Gesichter betrachtet hatte, eine alte Kindheitsverletzung, die wieder aufbrach.
Warum hätte ich das nicht sein können?, fragte er sich. Warum könnte sich ein hübsches Mädchen nicht in mich verlieben? Warum muss Hayden immer alles kriegen?
Als er aus dem Bad herauskam, war Lydia Barrie schon aufgestanden, schon teilweise angezogen, und sie drehte sich um und sah ihn erwartungsvoll an.
«Guten Morgen», sagte sie. Sie trug BH und Slip, und ihr zuvor makellos gestyltes Haar war heillos zerzaust, wie eine der Hexenperücken, die sie im Zauberladen in Cleveland verkauften. Ihr Make-up war fast vollständig verschmiert, und ihre Augen wirkten abgespannt, übernächtigt. Man sah ihr deutlich an, dass sie im Sauseschritt auf die vierzig zuging, aber das störte ihn überhaupt nicht. In ihrem mitgenommenen, unaufpolierten Zustand zeigte sie eine Verletzlichkeit, die ihn berührte.
«Hey», sagte er befangen, und er lächelte, als sie sich verlegen ans Haar fasste.
Und dann sah er die Kanone.
Es war ein kleiner Revolver, und sie hielt ihn locker in der linken Hand, während sie sich mit der rechten über die Haare strich, und er sah, wie sie versuchte, die Waffe unauffällig in ihre Aktentasche zu stecken. Für einen Augenblick verhielt sie sich so, als hoffte sie, er habe nichts bemerkt.
«Heilige Scheiße», sagte Miles.
Er trat einen Schritt zurück.
Wenn er es sich recht überlegte, hatte er wahrscheinlich noch nie in seinem Leben eine echte Schusswaffe zu Gesicht bekommen, auch wenn er im Fernsehen, im Kino und in Videospielen vermutlich an die Hunderte von Menschen mit Schusswaffen gesehen hatte. Er hatte zugeschaut, wie jede Menge Leute getötet wurden; er wusste, wie es theoretisch aussah: das kleine runde Loch in der Brust oder im Bauch, das Blut, das sich zu einem Rorschachklecks im Hemd ausbreitete.
«Jesus», sagte er. «Lydia.»
Ihr Ausdruck geriet ins Wanken. Im ersten Moment schien sie zu hoffen, sie könnte die Ahnungslose spielen – sie riss die Augen auf, als bereitete sie sich darauf vor zu sagen: Was? Wovon redest du? Und dann erkannte sie offensichtlich, dass eine solche Taktik nichts nützen würde, und ein kalter, herausfordernder Ausdruck huschte über ihr Gesicht, bevor sie schließlich die Achseln zuckte. Sie lächelte ihn schuldbewusst an.
«Was?», sagte sie.
«Du hast eine Pistole», sagte er. «Warum hast du eine Pistole?»
Er stand da in seiner Unterhose, noch immer leicht groggy, noch immer leicht benommen von der Tatsache, dass er zum ersten Mal seit zwei Jahren Sex gehabt hatte, noch immer durcheinander von den Gesprächen, die sie am Abend zuvor geführt hatten, und dem Bild von Hayden und Rachel, und der Traurigkeit, die er empfunden hatte. Lydia Barrie hob die Augenbrauen.
«Du hast keine Ahnung, wie es ist, eine Frau zu sein», sagte sie. «Ich weiß, dass du deinen Bruder nicht für gefährlich hältst, aber sei einmal realistisch. Versetz dich in meine Lage. Ich brauch eine gewisse Sicherheit, Miles.»
«Oh», sagte Miles. Und sie standen da und sahen sich an, und Lydia legte den Revolver aufs Bett und nahm die Hände hoch, als ob Miles derjenige wäre, der die Waffe hatte.
«Das ist bloß eine kleine Mäuseknarre», sagte sie. «Eine kleine
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