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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Bevölkerungsexplosion einsetzte?
    Hatte Hayden wirklich dafür gesorgt, dass Lydia Barrie in den Verdacht der Unterschlagung geraten war und deswegen unter einer Gewitterwolke von unbestätigten Anschuldigungen die Anwaltskanzlei Oglesby & Rosenberg verlassen musste, was ihrer Laufbahn geschadet, wenn nicht sogar den Todesstoß versetzt hatte?
    Es war weit hergeholt, dachte Miles, zu unterstellen, dass Hayden in all das verwickelt sein sollte. So viele verschiedene Dinge …
    «Sie lassen ihn wie eine Art Superschurken erscheinen», sagte Miles und schmunzelte leise, um ihr zu zeigen, wie albern das klang. Aber sie hob lediglich skeptisch eine Augenbraue.
    «Meine Schwester ist seit drei Jahren vermisst», sagte sie. «Das ist für mich kein Comic-Gag. Ich nehme das sehr ernst.»
    Und Miles spürte, dass er errötete. Verlegen wurde. «Ja also», sagte er. «Ich verstehe. Ich wollte Ihre Situation nicht – verharmlosen.»
    Er schaute hinunter auf seine Hände, hinunter auf die penibel geschichteten Dokumente, die sie für ihn bereitgelegt hatte, starrte auf die Schlagzeile eines Zeitungsartikels, den sie fotokopiert hatte: «US-amerikanische Staatsanwaltschaft erhebt Anklage wegen schweren Identitätsbetrugs gegen elf Personen», las er. Was sollte man dazu sagen?
    «Ich versuche nicht, ihn zu entschuldigen», sagte Miles. «Ich meine nur – es ist ein bisschen schwer zu glauben, wissen Sie? Er ist nur ein einzelner Mensch. Und er ist eigentlich – ich bin mit ihm aufgewachsen, und er ist eigentlich wirklich kein Genie. Ich meine, wenn er all das getan hat, was Sie glauben, hätte ihn da nicht schon längst jemand erwischt?»
    Lydia Barrie neigte den Kopf leicht zur Seite, und als sich ihre Augen begegneten, wich sie seinem Blick nicht aus. «Miles», sagte sie, «Sie haben sich das ganze Material, das ich hier habe, doch gar nicht angesehen, oder? Wir – Sie und ich – könnten die einmalige Chance haben, Ihren Bruder vor Gericht zu bringen. Zu versuchen, ihm zu helfen, ihn zu heilen, wenn Sie so wollen. Ihn für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Vielleicht ist er kein ‹Superschurke›, wie Sie es formulieren, aber ich glaube, wir können uns darauf einigen, dass er eine Gefahr für sich selbst darstellt. Und für andere. Darauf können wir uns doch einigen, Miles, oder?»
    «Ich glaube nicht, dass er böse ist», sagte Miles. «Er ist – gestört, verstehen Sie? Ich glaube ehrlich, dass das alles für ihn zu einem großen Teil ein Spiel ist. Als Kinder haben wir alle möglichen solchen Spiele gespielt, und in vielerlei Hinsicht ist es noch immer das Gleiche. Es ist für ihn, na ja, so etwas wie ein Rollenspiel. Verstehen Sie, was ich meine?»
    «Ja», sagte Lydia Barrie, und sie beugte sich vor, und ihr Ausdruck wirkte fast traurig, fast mitfühlend. «Sie sind ein sehr sentimentaler Mensch», sagte sie, und dann lächelte sie, sehr kurz und sanft, und legte ihre kühle, glatte Handfläche auf sein Handgelenk. «Und sehr loyal. Das bewundere ich unheimlich.»
     
    Es war nicht ausgeschlossen, dass sie ihn gleich küssen würde.
    Er wusste nicht genau, was er davon hielt, aber er spürte diese seltsame Schwere in der Luft, wie wenn kurz vor einem Gewitter das Barometer in den Keller fällt. Sie schien nicht zu begreifen, was er ihr zu erklären versuchte. Sie war nicht eigentlich seine Verbündete, dachte er, aber dennoch merkte er, wie sich seine Augen langsam schlossen, als sie sich weiter vorbeugte. Dieses unheimliche Licht zog noch immer einen glühenden Rand um die Kanten des Rollos, während ihre Hand seinen Unterarm hinauf zu seinem Bizeps glitt, und okay, ja, ihre Lippen berührten sich.
     
    Als Miles am nächsten Morgen aufwachte, schlief Lydia Barrie noch, und er lag noch eine Zeitlang mit offenen Augen da und starrte auf die roten Zahlen des alten Digitalweckers auf dem Nachttisch. Schließlich fing er an, diskret unter den Decken nach seiner Unterhose zu tasten, und als er sie gefunden hatte, steckte er vorsichtig die Füße durch die Beinöffnungen und zog sich das Teil dann über die Oberschenkel hoch. Lydia Barrie rührte sich nicht, als er auf nackten Füßen ins Bad ging.
    Tja. Das war unerwartet gewesen.
    Und er konnte nicht umhin, ein kleines bisschen Stolz zu verspüren. Sich ein kleines bisschen … erbaut zu fühlen. Er war an so was nicht gewöhnt: Mit Frauen – selbst mit betrunkenen Frauen – ins Bett zu gehen war für ihn kein häufiges Vorkommnis. Er betrachtete sich

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