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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Beretta Kaliber .25. Die trage ich schon seit Jahren bei mir», sagte sie. «Für eine Schusswaffe ist sie nicht sonderlich tödlich – ich würde sie eher als ein Abschreckungsmittel bezeichnen.»
    «Ich verstehe», sagte Miles, obwohl er diesbezüglich seine Zweifel hatte. Er stand da in seinen Boxershorts mit dem lächerlichen Chili-Muster und verschränkte unsicher die Hände vor der Brust. Ein schwabbliger Schauder lief ihm durch die nackten Beine, und er fragte sich flüchtig, ob es das Beste wäre, zur Tür zu flitzen.
    «Hast du vor, meinen Bruder zu töten?», fragte er schließlich, und Lydia sah ihn, wie erstaunt, mit großen Augen an.
    «Natürlich nicht!», sagte sie, und er stand da, während sie sich den Rock über die Hüften zog und den Reißverschluss hinten zumachte, und dann lächelte sie ihn erschöpft an. «Miles», sagte sie. «Mein Lieber, ich habe dich gestern Abend gefragt, ob du einen Plan hättest, und du hast mir gesagt, du würdest, wenn du erst einmal deinen Bruder gefunden hättest, wahrscheinlich mehr oder weniger improvisieren. Schön, ich werde nicht improvisieren. Nachdem ich bei Oglesby & Rosenberg gefeuert worden bin, war eines der Dinge, die ich in meiner «Freizeit» als Erstes getan habe, mir eine Privatdetektiv- und Kautionsagent-Lizenz für den Staat New York zu besorgen. Was mir eine riesengroße Hilfe war, bei meiner Suche nach – Hayden.» Sie steckte die Arme entschlossen in die Ärmel ihrer Bluse. «Und das Erste, was ich nach meiner Ankunft in Kanada getan habe, war, Mr.   Joe Itigaituk anzuheuern; er ist ein in Kanada zugelassener privater Ermittler, sodass ich, wenn wir deinen Bruder in Gewahrsam nehmen, die Souveränität einer ausländischen Macht nicht verletzen werde.»
    Miles sah zu, wie Lydia sich die Bluse von oben nach unten zuknöpfte und ihre Finger, während sie redete, eine flinke Zeichensprache artikulierten.
    Er warf einen Blick zur Tür, die zum Korridor führte, und sein Bein zitterte wieder.
    «Ich bin keine Mörderin, Miles», sagte Lydia, und sie standen da und sahen sich an, und ihr Ausdruck wurde weicher, als sie ihn von oben bis unten anschaute.
    «Warum ziehst du dich nicht an?», sagte sie. «Mr.   Itigaituk und ich fliegen in ein paar Stunden nach Banks Island, und ich dachte, du würdest vielleicht gern mitkommen. So kannst du absolut sicher sein, dass keiner ihm was tut. Wenn du dabei bist, kommt er vielleicht friedlich mit.»
     
    Lydia vermutete, dass Hayden gegenwärtig in einer verlassenen Wetterstation an der Nordspitze von Banks Island wohnte, nicht weit vom Rand des permanenten Eisschilds.
    «Wobei der Rand des permanenten Eisschilds nicht so genau festgelegt ist, wie er das mal war», sagte sie, als sie im Taxi saßen. «Globale Erwärmung und so weiter.»
    Miles war nicht zum Reden aufgelegt. Er lehnte den Kopf gegen das Fenster und starrte hinaus auf die baumlosen Straßen, eine Reihe von knallbunten Häusern – türkis, sonnenblumengelb, purpurrot –, wie Bauklötze aneinandergefügt. Das Erdreich entlang der Straßen hatte die Farbe von Holzkohle, der Himmel war wolkenlos, und direkt hinter der Zeile von Häusern und Lagerschuppen sah er die tauende Tundra. Da draußen war es grün, es blühten hier und da sogar Blumen, aber es kam ihm so vor, als ob die Landschaft erst dann wirklich sie selbst war, wenn sie wieder mit Eis bedeckt war.
    Lydia hatte ihm nicht in allen Einzelheiten erzählt, wie sie Haydens Spur bis zu diesem bestimmten Ort zurückverfolgt hatte, ebenso wenig wie Miles bezüglich seiner eigenen, weniger rationalen Methoden ins Detail gegangen war – der Intuition oder Vorahnung, oder Idiotie, die ihn dazu gebracht hatte, sechseinhalbtausend Kilometer weit zu fahren. Aber Lydia war ziemlich optimistisch. «Die Tatsache, dass wir beide hier in Inuvik gelandet sind, müsste doch eigentlich ein gutes Zeichen sein, oder? Das macht mir, ehrlich gesagt, Hoffnung. Dir nicht?»
    «Doch, ja», sagte Miles, obwohl er jetzt, wo die Ergreifung Haydens in immer greifbarere Nähe rückte, spürte, wie sich ein böses, banges Vorgefühl in ihm ausbreitete und Wurzeln schlug. Er dachte daran, wie Hayden geschrien hatte, als man ihn in der psychiatrischen Klinik in die Zwangsjacke gesteckt hatte. Es war das Entsetzlichste, was Miles je gehört hatte – wie sein Bruder, achtzehnjährig, ein erwachsener Mann, diese grauenvollen, krähenartigen Schreie ausstieß und mit den Armen um sich schlug, als die Pfleger über ihn

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