Identität (German Edition)
lediglich ein Schwindler, ein Betrüger, ein Hochstapler, der sich in ihr Familienfoto eingeschlichen hatte. Sie begriff nicht, dass der Mensch, den sie als Miles Spady kennengelernt hatte, eine reale Möglichkeit war. Eine Potenzialität, die zur aktuellen Existenz hätte gelangen können.
«Ich könnte mir denken, Sie haben die Hoffnung, ihn zu retten», sagte Lydia Barrie, und sie bedachte Miles mit einem langen, forschenden Blick, den er nicht ganz verstand.
Sie hatte an diesem Abend viel getrunken, aber wie eine Betrunkene benahm sie sich eigentlich nicht. Sie torkelte nicht oder so, allerdings wirkten ihre Bewegungen vorsätzlicher, als müsste sie nachdenken, bevor sie sie ausführte. Ihr ganzes Verhalten hatte etwas sehr Präzises. Sie war Anwältin, und sie legte eine gewisse anwaltliche Grazie an den Tag – eine theatralische Drehung des Handgelenks, als sie den Aktendeckel wieder in ihre Ledermappe schob, ein exakt choreographiertes Klick , als sie die dazu passende Aktentasche öffnete, ein elegantes Swischh von Papier, als sie die Dokumente auf das Bett legte, zwischen sich und ihn. Dass sie betrunken war, erkannte man nur, wenn man ihr in die Augen sah, die eine feuchte, unscharfe Intensität hatten.
«Sie glauben, wenn Sie ihn nur erst mal finden, könnten Sie ihn dazu bringen – ja, was zu tun?» Sie schwieg kurz, lange genug, dass ihnen beiden auffallen konnte, wie unlogisch er war.
«Was genau glauben Sie eigentlich, Miles?», sagte sie sanft. «Glauben Sie, Sie können ihn dazu überreden, sich den Behörden zu stellen? Oder vielleicht, mit Ihnen in die Staaten zurückzukommen und eine Therapie zu machen oder so was in der Art? Halten Sie es für möglich, dass er seine Einwilligung zu einer Einweisung in eine psychiatrische Anstalt geben würde?»
«Ich weiß es nicht», sagte Miles.
Es war entmutigend, so leicht durchschaubar zu sein. Ihm war nicht klar, wie sie seine Gedankengänge, die zweifelhaften Ideen, die er über die Jahre mit sich herumgetragen hatte, so exakt hatte artikulieren können , aber sie jetzt ausgesprochen zu hören machte ihm bewusst, wie dumm und unhaltbar sie klangen.
Um die Wahrheit zu sagen, hatte er gar keinen Plan. Er hatte immer gedacht, dass er, sobald – falls – er Hayden endlich eingeholt hätte, würde improvisieren müssen.
«Ich weiß es nicht», sagte er noch einmal, und Lydia fixierte ihn mit ihrem grellen, verschwommenen Blick. Selbst jetzt, wo sie so betrunken war, sah er ihr an, dass sie eine Wahnsinns-Staatsanwältin abgegeben hätte – geradezu mörderisch im Kreuzverhör.
Er schlug die Augen mit einem verschämten, Entschuldigung heischenden Lächeln nieder. Er hatte selbst einiges getrunken, und vielleicht fiel es ihr deswegen so leicht, seine Gedanken zu lesen. Aber es stimmte auch, dachte er, dass er auch sonst nicht sonderlich undurchschaubar war. Das war von jeher sein Problem gewesen – schon im Mutterleib musste ihn irgendein besonderer amniotischer Stoff durchspült haben, der ihn dazu programmiert hatte, von Geburt an der Leichtgläubige zu sein, der sanfte, leicht zu manipulierende Zwilling.
«Er ist nicht das, wofür Sie ihn halten, Miles», sagte sie. «Das wissen Sie doch, oder?»
Sie hatte ihm schon ihre verschiedenen Theorien über Hayden dargelegt.
Mit einigen von ihnen stimmte er grundsätzlich überein.
Er wusste, ohne jeden Zweifel, dass Hayden ein Dieb war, dass er zahlreiche Personen und Firmen betrogen hatte, dass er insbesondere verschiedene Investmentbanken aufs Korn genommen und möglicherweise um Millionen von Dollar bestohlen hatte.
Dass es wirklich um einen so hohen Betrag gehen könnte, bezweifelte Miles allerdings.
Was Lydias andere Anschuldigungen betraf, war er sich nicht so sicher. War Hayden wirklich an der Freisetzung verschiedener Internetwürmer beteiligt gewesen – darunter eines, der die Computer der Diebold Corporation für mehr als fünfundvierzig Minuten lahmgelegt hatte? Hatte Hayden das Handy einer Hotelerbin gehackt und deren Vater für kurze Zeit davon überzeugt, seine Tochter sei entführt worden? Hatte er die berufliche Laufbahn eines Yale-Professors für politische Wissenschaften ruiniert, indem er kinderpornographisches Material auf seinen Computer kopiert hatte? War er wirklich ein Sympathisant und Sponsor verschiedener terroristischer Organisationen, darunter einer Öko-Gruppe, die sich für die Verbreitung biologischer Waffen als eines Mittels zur Verlangsamung der
Weitere Kostenlose Bücher