Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
direkt unter dem Türknauf befand, und dann machte er wieder eine theatralische Geste mit den Händen – wie ein Zauberkünstler: Abrakadabra!
    «Wart nur, bis du es von innen gesehen hast», sagte Mike Hayden. «Es gibt eine Bibliothek. Mit einem richtigen Wandtresor hinter einem Gemälde! Ist das nicht völlig irre?»
    Und dann versteifte sich Mike Hayden – als sei ihm sein Ausbruch kindischer Begeisterung mit einem Mal peinlich, als befürchtete er, Jay könnte sich darüber lustig machen.
    «Ich bin sehr froh darüber, dass wir zusammenarbeiten werden», sagte er. «Ich habe mir schon immer gewünscht, einen richtigen Bruder zu haben, weißt du? Wenn du als Zwilling geboren bist, gibt’s da immer einen Teil von dir, der sich nach diesem anderen Menschen in deinem Leben sehnt. Diesem anderen – Seelengefährten. Verstehst du, was ich meine?»
    Er öffnete die Tür, und ein seltsamer, modriger Geruch strömte ihnen entgegen. Jay sah gleich hinter der Eingangshalle, jenseits einer weiten Fläche von verblichenen Orientteppichen, mit Laken verhängte Möbel und eine breite Treppe mit geschwungenem Geländer.
    «Ich hab mich übrigens um deine Kumpane in Atlanta gekümmert», sagte Mike Hayden. «Ich schätze mal, dass die Bundesbullen schon dabei sind, die kleinen Wichser hochzunehmen, das heißt – wenigstens den potenziellen Ärger haben wir vom Hals.»
    Und damit betraten er und Jay das Haus.

DRITTER TEIL
    Sag dir zuerst, was du sein willst; und dann
    tu, was vonnöten ist.
    Epiktet, Diatribai III, 23

20
    AUF DEM FOTO sitzen der junge Mann und das Mädchen zusammen auf einem Sofa. Beide haben eingepackte Geschenke auf dem Schoß, und sie halten sich bei der Hand. Der junge Mann ist blond und schmal und angenehm unbefangen. Er sieht das Mädchen an, und man erkennt an seinem Gesichtsausdruck, dass er gerade etwas harmlos-freundlich Frotzelndes sagt, und das Mädchen fängt gerade an zu lachen. Sie hat rotbraunes Haar und kummervolle Augen, aber im Augenblick sieht sie ihn mit unverhohlener Zuneigung an. Es ist offensichtlich, dass sie ineinander verliebt sind.
    Miles saß da, starrte das Bild an und wusste nicht, was er sagen sollte.
    Keine Frage, es war Hayden.
    Es war sein Bruder, aber man hätte nie geglaubt, dass er und Miles Zwillinge waren. Es war so, als sei dieser Hayden von Geburt an in einem anderen Leben aufgezogen worden, als ob ihr Vater nie gestorben wäre, als ob ihre Mutter ihm gegenüber nie wütend, fremd und verzweifelt geworden wäre, als hätte Hayden nie phantasierend in einem Dachbodenzimmer gelegen, die Hände mit Stoffgurten gefesselt, rufend – seine heisere, hysterische Stimme durch die geschlossene Tür gedämpft, aber beharrlich: «Miles! Hilf mir! Miles, deck mir den Hals zu. Bitte, bitte, jemand muss mir den Hals zudecken!»
    Als wäre während all der Zeit woanders ein anderer, normaler Hayden aufgewachsen und aufs College gegangen und hätte sich in Rachel Barrie verliebt. Und wäre in die Welt des gewöhnlichen Glücks gerutscht – in das Leben, dachte Miles, das ihnen beiden eigentlich zugestanden hätte, brave Mittelschichtjungen aus Suburbia, die sie beide waren.
    «Ja», sagte Miles. Er schluckte. «Ja. Das ist mein Bruder.»
    Sie saßen in Lydia Barries Zimmer im Mackenzie Hotel, in Inuvik, aber einen Moment lang wirkte es nicht so, als wären sie überhaupt irgendwo. Dieser Ort, diese Stadt, die schuhkartonartigen, mit Wellblech verkleideten Häuser, so provisorisch wie eine hastig aus dem Boden gestampfte Filmkulisse; dieses Zimmer mit dem Rand von unveränderlichem, unwahrscheinlichem Sonnenlicht rings um das Rollo – das wirkte alles um so viel unwirklicher als die jungen Leute auf dem Foto, dass es ihn nicht überrascht hätte zu erfahren, dass in Wirklichkeit er und Lydia bloße Hirngespinste waren.
    Er ließ seine Fingerkuppen leicht auf der glänzenden Oberfläche des Fotos ruhen, als könnte er das Gesicht seines Bruders berühren, bis Lydia die Hand ausstreckte und ihm das Bild sanft aus den Händen nahm.
    «Hören Sie», sagte er. «Wäre es möglich, dass ich einen Abzug von dem Bild bekomme? Ich hätte sehr gern eine Kopie.»
    Es war unmöglich, die Traurigkeit zu erklären, die er empfand; das Gefühl, dass dieses Foto, das sie gerade wegpackte, fast etwas Übernatürliches sei: ein Bild von etwas, das möglich gewesen wäre. Für ihn selbst. Für Hayden. Für ihre Familie.
    Aber das hätte Lydia Barrie kaum begriffen, dachte er. Für sie war Hayden

Weitere Kostenlose Bücher