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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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sagen. Es war komisch – die ganze Zeit, die sie in diesem muffigen Fernsehzimmer zugebracht hatte, all die Stunden, die sie allein gewesen war, mit alten Videos als einziger Gesellschaft, Rebecca und Mrs.   Miniver und Frau ohne Gewissen und So grün war mein Tal und My Fair Lady und Solange ein Herz schlägt … Und dazu Diät-Cola getrunken und gelegentliche Blicke in den verwahrlosten japanischen Garten geworfen und darauf gewartet hatte, endlich wieder in den Maserati einsteigen zu können und davonzufahren, an irgendeinen wunderbaren Ort.
    Er war schon «viele verschiedene Leute» gewesen. So viel gab er zu.
    Also – war es wahrscheinlich logisch, anzunehmen, dass es auch andere Mädchen gegeben hatte, andere Lucys, die auf derselben Couch gesessen und sich dieselben alten Filme angesehen und derselben Stille gelauscht hatten, während das Lighthouse Motel über seinem staubigen Streifen von ausgetrocknetem See brütete.
    «Ich möchte nur wissen –», sagte sie. «Ich will etwas über die anderen wissen. Wie viele hat es in deinem Leben gegeben? Bei der ganzen Geschichte.»
    Und er schaute auf. Er riss den Blick vom Fernseher los und sah ihr in die Augen, und sein Ausdruck wurde unsicher.
    «Es hat nie jemand anders gegeben», sagte er. «Das ist das, was du nicht verstehst. Ich bin auf der Suche gewesen – ich bin lange Zeit auf der Suche gewesen. Aber es hat nie so eine wie dich gegeben.»
     
    Aha.
    Nein, sie glaubte ihm nicht, auch wenn er es vielleicht geschafft hatte, sich das selbst einzureden. Vielleicht dachte er wirklich, es spiele keine Rolle, ob sie Lucy oder Brooke war, oder was immer für einen Namen sie sonst noch annehmen würde. Vielleicht stellte er sich vor, dass sie innen drin derselbe Mensch bleiben würde, gleichgültig, welchen Namen und welche Maske sie sich zulegen würde.
    Aber das stimmte nicht, dachte sie.
    Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass Lucy Lattimore die Erde verlassen hatte. Schon jetzt war kaum noch etwas von ihr übrig – ein paar Dokumente, Geburtsurkunde und Sozialversicherungskarte, zu Hause in der Kommode ihrer Mutter, ihre Highschool-Unterlagen, die in irgendeinem antiquierten Computer schlummerten, die Erinnerungen ihrer Schwester, Patricia, die vagen, schon verblassenden Erinnerungen ihrer Klassenkameraden und Lehrer.
    Tatsache war, dass sie sich vor Monaten getötet hatte. Jetzt war sie so gut wie ein Nichts: eine namenlose physische Gestalt, die sich austauschen und austauschen und austauschen ließ, bis nur noch Moleküle übrig blieben.
    Der Stoff, aus dem die Sterne sind – das hatte George Orson einmal im Geschichtsunterricht gesagt. Wasserstoff und Kohlenstoff und all die Urteilchen, die seit Anbeginn der Zeit existieren – das ist der Stoff, aus dem ihr alle besteht .
    Als ob das ein Trost wäre.
     
    Zunächst würden sie nach Brüssel fliegen. Sieben Stunden und fünfundzwanzig Minuten, in einer Boeing 767, und dann von dort aus weitere sechs Stunden und fünfundvierzig Minuten nach Abidjan. Den schwierigsten Teil der Reise hätten sie schon hinter sich, sagte David Fremden. Die Zollkontrollen in Belgien und der Elfenbeinküste seien nicht der Rede wert. «Wir können uns eigentlich schon entspannen und Zukunftspläne schmieden.»
    4,3 Millionen Dollar.
    «Ich will nicht allzu lange in Afrika bleiben», sagte er. «Ich will nur die Sache mit dem Geld geregelt bekommen, und dann können wir fahren, wohin wir auch wollen.
    In Rom bin ich noch nie gewesen», sagte er. «Ich würde gern eine gewisse Zeit in Italien verbringen. Neapel, Toskana, Florenz. Ich glaube, das wäre eine wundervolle Erfahrung für dich, aufregend. Wie für Henry James», sagte er. «Wie für E. M. Forster», sagte er. «Lucy Honeychurch», sagte er und schmunzelte, als sei das ein kleiner leichtfertiger Scherz, den sie zu goutieren wisse –
    Aber sie hatte keine Ahnung, wovon er eigentlich redete.
    Früher – damals, als er noch George Orson und sie seine Schülerin war, hatte sie seine abgehobenen Kuriositäten, die Nebenprodukte seines Studiums an der Elite-Uni, recht amüsant gefunden. Sie verdrehte dann immer die Augen und tat so, als nerve sie seine Angeberei maßlos, diese mild-vorwurfsvolle Art, die er draufhatte, die Augenbrauen zu wölben, so als habe sie eine Wissenslücke offenbart, die ihn zutiefst verwunderte. «Wer ist Spinoza?» Oder: «Was ist Natriumpentothal?» Und dann war es durchaus möglich, dass er eine komplizierte oder sogar interessante

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