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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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oder geborgt, oder übertrieben war – es war nicht lediglich, dass er gelogen hatte. Es war mehr als das, ein unheimliches Gefühl, das in ihrem Bewusstsein aufbrach, wann immer sie versuchte, ruhig und logisch über die Situation nachzudenken.
    Er existierte nicht mehr.
    Da musste sie an die Tage nach dem Tod ihrer Eltern denken – der Wäschekorb überquellend von ungewaschenen Sachen, der Kühlschrank voll mit Lebensmitteln, die ihre Mutter an diesem Wochenende zum Kochen hatte verwenden wollen, das Handy ihres Vaters, das zahlreiche Anrufe von Kunden anzeigte, die wissen wollten, warum er nicht zu den vereinbarten Terminen gekommen war. Anfangs würden sie ein paar Lücken in der Welt hinterlassen – bei Kunden, die sich auf ihren Vater verließen, bei Patienten, die im Krankenhaus darauf warteten, von ihrer Mutter versorgt zu werden, bei Freunden, Kollegen und Bekannten, denen sie eine Zeitlang fehlen würden –, aber das waren unbedeutende Laufmaschen im Gewebe des großen Ganzen, leicht zu behebende Schäden. Was sie am meisten schockierte, war, wie schnell sich solche Abwesenheiten zu schließen begannen. Schon nach ein paar Wochen konnte man sehen, wie bald ihre Eltern vergessen sein würden, wie schnell ihre Gegenwart zu einer Abwesenheit wurde und dann – was? Wie nannte man eine Abwesenheit, die aufhörte, sich als Abwesenheit bemerkbar zu machen, wie nennt man ein Loch, das aufgefüllt worden ist?
    Ach , dachte sie dauernd. Sie werden nie wiederkommen . Als ob es sich dabei um etwas Übernatürliches, Science-Fictionmäßiges handelte. Wie konnte man glauben, so etwas sei möglich?
    Daran musste sie denken, als sie in der Nacht, in der er ihr die Wahrheit gesagt hatte, neben ihm im Bett lag und mit den Fingern über den Arm strich, der nicht George Orsons Arm war. Ich werde nie wieder mit George Orson reden , dachte sie, und sie zog die Hand zurück.
    Er war da, direkt neben ihr, derselbe Körper, mit dem sie schon so lange zusammen war, und trotzdem fühlte sie sich einsam.
    Ach, George , dachte sie. Du fehlst mir .
     
    Und jetzt, wo sie im Flugzeug neben David Fremden saß und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, dachte sie das wieder.
    George Orson fehlte ihr. Sie würde nie wieder mit ihm reden.
    Sie war noch nie zuvor in einem Flugzeug gewesen, und sie war sich der grauenvollen, unermesslichen Distanz zwischen sich und dem Erdboden bewusst. Sie spürte, wie die Luft unter ihren Füßen vibrierte, ein Schauder von leerem Raum, und sie bemühte sich, nicht aus dem Fenster zu sehen. Hinauszuschauen und die dicken Wolken-Meringen zu sehen war nicht so schlimm, aber wenn die Erde anfing, dazwischen sichtbar zu werden, wurde es schon schwieriger. Die Topographie. Man konnte die geometrische Ausbreitung menschlicher Besiedlung sehen, die haarfeinen Bleistiftstriche von Feldrainen, Wegen und klobigen Sprenkel von Ortschaften, und es fiel schwer, nicht daran zu denken, wie es wäre abzustürzen – wie lange man fallen müsste, bevor man endlich aufprallte.
    George Orson hätte sie das sowieso nie erzählt. Sie hätte es nicht ertragen, so unerfahren zu erscheinen, von George Orson als eine alberne Landpomeranze angesehen zu werden, ganz kribbelig vor ignoranter Angst beim Gedanken ans Fliegen, die Fingernägel in das Polster der Armlehnen gebohrt, als könnte ihr das irgendwie Halt geben.
    David Fremden sah währenddessen völlig gefasst aus. Er schaute auf den Miniatur-Fernsehbildschirm, der in die Kopfstütze des Sitzes vor ihm eingebettet war, verweilte kurz bei einer Sendung über Pyramiden im History Channel, zappte rasch über Nachrichten und Wetter weg, lächelte nostalgisch bei einer Episode einer alten Sitcom aus den achtziger Jahren. Er sah sie nicht an, aber seine Hand ruhte auf ihrem Unterarm.
    «Du liebst mich noch immer, oder?», hatte er sie gefragt – und die Frage pulsierte weiter, als könnte sie sie durch die Wirbel seiner Fingerspitzen spüren.
     
    Aber es gab auch andere Dinge, die sie im Kopf behalten musste. Die Ereignisse überstürzten sich mittlerweile fast. Die Welt drehte sich weiter, und sie musste ein paar Entscheidungen treffen, auch wenn sie nur über unzuverlässige Informationen verfügte. 4,3 Millionen Dollar lagen angeblich auf einer Bank in der Elfenbeinküste. Hunderttausend Dollar, vielleicht noch mehr, befanden sich gegenwärtig in ihrem Besitz.
    Ihr Handgepäck lag im Stauraum, direkt über ihnen, und das war so weit ganz gut, obwohl es auch ein gewisses

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