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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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den sein Vater vielleicht sogar anerkannt hätte.
    War das nicht genug? Bestand nicht die Möglichkeit, dass er sesshaft wurde und zur Ruhe kam, dass er glücklich oder zumindest zufrieden wurde? Bestand nicht die Chance, dass – nach diesem letzten Mal – Haydens Schatten anfangen würde, sich aus seinen Gedanken zurückzuziehen, und er ihm endlich, endlich entrinnen könnte?
    War das wirklich so schwierig? So unwahrscheinlich?
    Und dann hob er die Augen, und gerade in dem Moment drehte sich Mr.   Itigaituk um und rief ihnen etwas zu.
    «Ich sehe die Station», sagte Mr.   Itigaituk. «Da vorn, nur noch ein Stück weiter!»
    Lydia rückte ihre Sonnenbrille zurecht und reckte den Hals, und Miles beschirmte sich die Augen gegen den strahlenden Himmel und den Wind und spähte mit zusammengekniffenen Augen zum Horizont.
    Sie standen alle ratlos da.
    «So», sagte Miles endlich. «Was machen wir jetzt?»
    Mr.   Itigaituk und Lydia tauschten einen Blick.
    «Ich meine», sagte Miles, «gehen wir einfach hin und klopfen an die Tür? Oder was?»
    Und Lydia fixierte ihn durch die undeutbare Leere ihrer Sonnenbrille.
    «Hast du einen anderen Vorschlag?», fragte sie.
     
    Die Forschungsstation sah wie ein Strandhaus aus. Ein Pfahlbau, dachte Miles, nur dass weit und breit kein Wasser oder Ufer zu sehen war, nichts, was darauf hindeutete, dass das hier alles jemals überflutet werden könnte.
    Das Gebäude selbst war kaum mehr als drei aneinandergenietete Wohnmobile, auf vielleicht anderthalb Meter hohe Pfähle montiert. Es war mit dem gleichen weißen Wellblech verkleidet, das Miles in Inuvik schon ausgiebig gesehen hatte, und auf dem Flachdach gedieh ein kleiner Garten von Antennen und Satellitenschüsseln und allerlei Richtstrahlern. An der Längsseite des Gebäudes befanden sich ein großer, raumkapselförmiger Tank, wie man ihn für die Speicherung von Erdgas verwendet, und ein paar gleichfalls auf Stelzen stehende Metallfässer – wahrscheinlich für Petroleum. Kabel verbanden das Hauptgebäude mit einem kleinen Holzschuppen von der Größe eines Klosetthäuschens.
    «Sind Sie sicher, dass das –», sagte Miles, und Mr.   Itigaituk drehte sich um und fixierte ihn kurz mit einem glühenden Jägerblick.
    «Schhhhh», sagte Mr.   Itigaituk.
    Das Haus, dachte Miles, war ganz offensichtlich verlassen. Die Fenster – vier auf jeder Seite – waren nicht zum Hinausschauen gedacht. Sie waren mit einer grauen, undurchsichtigen Folie beklebt, wahrscheinlich irgendeinem Dämmmaterial. Eine Wetterfahne, ein Aluminiumwindrad, knarrte im friedlichen Dickicht von Metallstangen auf dem Dach des Gebäudes.
    Als Mr.   Itigaituk näher heranschlich, flog ein Rabe vom baufälligen Klohäuschen auf und segelte davon.
    «Er ist nicht hier», flüsterte Miles, mehr zu sich selbst als zu Lydia.
    Er hatte nie an Haydens paranormalen Quatsch geglaubt, auch wenn er sich im Lauf der Jahre mit etlichen von Haydens Obsessionen abgegeben hatte: früheren Existenzen und Geomantie, Numerologie und Ouija-Brettern, Telepathie und Geistreisen.
    An etwas glaubte er aber schon.
    Er war davon überzeugt, dass er, wenn Hayden endlich in Reichweite wäre, es spüren würde. Dann, glaubte er, würde so etwas wie ein außersinnlicher «Zwilling-Radar» Meldung geben. In seiner Brust würde ein Alarm ausgelöst, wie ein auf Vibration eingestelltes Handy. Wenn Hayden in diesem Gebäude gewesen wäre, dann wüsste Miles es.
    «Das hier ist es nicht», murmelte er.
    Lydia aber sah ihn nur ausdruckslos an. Sie streckte ihre behandschuhte Hand aus und legte sie Miles auf die Schulter.
    Still .
    Mit glühender, fast bebender Aufmerksamkeit starrte sie. Er musste an einen Spieler denken, an diesen Augenblick atemlosen Betens, wenn die Roulettescheibe langsamer wird und die Kugel endlich in einem Fach zur Ruhe kommt.
    Sie sah so sicher und konzentriert aus, dass er trotz allem an seinem Instinkt zweifelte.
    Vielleicht. Vielleicht war es ja möglich?
    Schließlich schien sie Dinge zu wissen, die er nicht wusste, sie schien ihre Hausaufgaben gemacht zu haben.
    Was, wenn Hayden wirklich da war? Was würden sie tun?
    Miles und Lydia blieben in einigem Abstand vom Gebäude stehen, während sich Mr.   Itigaituk der Holztreppe näherte, die zur Tür hinaufführte.
    Sie schauten zu, wie Mr.   Itigaituk langsam, geduckt Stufe für Stufe hinaufstieg. Sie schauten zusammen zu; sie hielten den Atem an, als er die Hand an den Türknauf legte.
    Nicht abgeschlossen.
    Miles

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