Identität (German Edition)
nicht direkt chaotisch, aber fast wie ein Schwarm von Fischen oder Zugvögeln. Lucy hob die Augen, als David Fremden ebenfalls aufstand.
«Brooke», sagte er. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest. «Komm, Schätzchen», flüsterte er. «Lass mich jetzt nicht hängen.»
Es war kein Problem aufzustehen. Kein Problem, den engen Gang zwischen den Sitzen entlangzuschlurfen, immer David nach – ihrem Vater nach –
Er reichte ihr ihren Ranzen mit einem dieser liebevollspöttischen Blicke, die sie so sehr an George Orson erinnerten. Dieses Grinsen, das sie so beeindruckt hatte, als sie seine Schülerin im Geschichtskurs gewesen war, damals, als er ihr gesagt hatte, sie sei sui generis . «Menschen wie du und ich, wir erfinden uns selbst», hatte er gesagt, aber sie hatte damals unmöglich ahnen können, dass er es wörtlich meinte.
George Orson fehlte ihr.
Sie atmete einmal tief durch und schloss sich der schlurfenden Schlange von Reisenden an. Es war wirklich kein Problem. Kein Problem, den Kopf gesenkt zu halten und zwischen den engen Sitzreihen einen Fuß vor den anderen zu setzen. Kein Problem, an der Flugbegleiterin vorbeizugehen, die am vorderen Ende des Flugzeugs stand und wie ein Priester nickte, Friede sei mit dir, Friede sei mit dir, während sie sie in den Ziehharmonikatunnel entließ, der zum Terminal führte.
«Du siehst geschafft aus», sagte David. «Ist alles in Ordnung?»
«Bestens», sagte Lucy.
«Warum holen wir uns nicht eine Tasse Kaffee?», sagte er. «Oder eine Cola? Eine Kleinigkeit zu essen?»
«Nein danke», sagte Lucy.
Sie waren in den endlosen, weiten Gang eingebogen, der an den verschiedenen Flugsteigen entlangführte – Schalter und Podeste, von in den Boden verankerten Stühlen umgeben, Glaszellen voll wartender Menschen, und soweit sie sehen konnte, würdigte sie niemand eines Blickes. Keiner schaute ein zweites Mal hin, keiner fragte sich, ob sie Vater und Tochter waren oder ein Liebespaar, oder Lehrer und Schülerin. Oder was auch immer. In Pompey, Ohio, hätten sie vielleicht Neugier erregt, hier aber nahm man sie kaum wahr.
Lucy starrte ein Trio von Frauen in Burkas an, blaue, gesichtslose, nonnenartige Gestalten, die liebenswürdig in ihrer Landessprache schwatzten, und ein großer Mann mit schütterem Haar wischte, munter in sein Handy fluchend, im Eilschritt an ihnen vorbei; dann eine alte Frau im Rollstuhl, die einen knöchellangen Pelzmantel trug und von einem Schwarzen in einem grauen Overall geschoben wurde –
Lucy spürte das Gewicht ihrer Umhängetasche. Bleakhaus und Webster’s Dictionary und Marjorie Morningstar , die zusammengenommen vielleicht hunderttausend Dollar enthielten.
Sie rückte den Gurt auf ihrer Schulter zurecht und zog dann am verhassten Schmetterlings-T-Shirt, das ihr ständig hochrutschte und den Bauch entblößte. Ihr war bewusst, wie unsympathisch ihr Brooke Fremden in dem Alter gewesen wäre: Wenn ihr Brooke Fremden in ihren kitschigen Klamotten und mit ihrer kindisch-kessen Schultertasche auf dem Korridor der Pompey High School entgegengelatscht wäre, hätte Lucy das große Kotzen gekriegt.
Doch als David Fremden ihr einen Blick über die Schulter zuwarf, war sein Ausdruck mild und väterlich und zerstreut. Sie war einfach ein Mädchen, einfach ein Teenager. So sahen Teenager aus; ihm war alles egal, solange sie mit ihm Schritt hielt.
Ihm fehlte Lucy nicht, dachte sie.
«Das hast du schon mal gemacht», sagte sie. «Ich bin nicht die Erste.»
Das war in der Nacht vor ihrer Abreise gewesen. Sie waren noch immer im Haus oberhalb des Lighthouse Motel und saßen im Fernsehzimmer nebeneinander auf der Couch, ihre Sachen gepackt, die Zimmer stumm wie Orte, die wissen, dass sie bald verlassen werden.
Die Bücher waren mit Geld vollgeklebt, und jetzt hätten sie einfach ins Bett gehen sollen, aber stattdessen saßen sie da und schauten sich den Eingangsmonolog irgendeines Late-Night-Talkshow-Moderators an. Sein Gesicht, Davids Gesicht, war vollkommen ausdruckslos, zeigte diese typische stumpfe Leere-vor-der-Glotze, und schließlich wiederholte sie es.
«Du bist schon andere Leute gewesen», sagte sie, und endlich wandte er die Augen vom Bildschirm ab und warf ihr einen müden Blick zu.
«Das ist eine komplizierte Frage», sagte er.
«Meinst du nicht, es wäre nur fair, wenn du ehrlich mit mir wärst?», sagte sie. «Wir sind schließlich …»
Zusammen?
Sie dachte darüber nach.
Vielleicht war es besser, nichts zu
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