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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Unbehagen verursachte.
    Sie hatten ihre letzte Nacht im Lighthouse Motel Seite an Seite in der Bibliothek zugebracht, jeder mit einer Rolle Tesafilm, jeder mit einem Stapel Hundert-Dollar-Scheine.
    David Fremden hatte einen großen alten Atlas, 65 × 50   cm, vor sich liegen, und Lucy ein Wörterbuch und einen Roman von Dickens. So saßen sie da und befestigten Banknoten an den Seiten.
    «Bist du sicher, dass das funktioniert?», hatte Lucy gesagt. Sie blätterte sich durch Bleakhaus , und Textfetzen sprangen ihr jedes Mal ins Auge, wenn sie einen Geldschein auf die Seite legte und ihn festklebte. Der Nebel ist wirklich furchtbar, gab ich zu . Und sie presste Ben Franklin darauf und blätterte ein paar Seiten weiter. Es ist eine Schmach, fuhr sie fort. Sie wissen es ganz gut. Das ganze Haus ist eine Schmach. Und wieder deckte sie die Passage ab, und wieder tauchten ein paar Krümel Text auf: Miss Jellyby fanden wir am Kamin im Schreibzimmer stehen …
    «Das ist kein Problem», sagte David Fremden. Er arbeitete schneller als sie, reihte gerade drei Hunderter in der Mitte von Irland nebeneinander und drückte mit dem Daumen einen Streifen Klebefilm über die Oberkante der Geldscheine. «Das mache ich nicht zum ersten Mal», sagte er.
    «Okay», sagte sie.
    «Das Universum», wendete er ein, «ist kein besonders guter Vater, fürchte ich.»
    «Aber haben die da nicht einen Röntgenapparat», fragte sie, «mit dem sie durch die Buchdeckel sehen können?»
    Das Gemälde stellt die gegenwärtige Lady Dedlock dar; es gilt für ausgezeichnet getroffen und …
    «Hör mal», sagte David Fremden, und er seufzte. «In dem Punkt wirst du mir einfach vertrauen müssen. Ich weiß, wie diese Sicherheitsanlagen funktionieren. Ich weiß wirklich, was ich tue.»
     
    Und bislang, ja, hatte er recht behalten, auch wenn sie entsetzlich nervös gewesen war. Als sie endlich am Anfang der Schlange vor dem Sicherheitscheck standen, hatte sich ihr Körper fast übernatürlich sichtbar angefühlt, so als strahle ihre Haut eine leuchtende Aura aus. Sie konnte es nicht glauben, dass die Leute sie nicht anstarrten, aber keiner schien etwas zu merken. Also legte sie ihren Ranzen, der ein paar Toilettenartikel und ein T-Shirt und die Bücher enthielt, in eine graue Plastikwanne und musste die ganze Zeit an das gemästete, mit Geld vollgestopfte Bleakhaus denken – musste daran denken, als sie sich bückte, um die Schuhe auszuziehen, und als das Rollband ihre Tasche durch den Tunnel des Durchleuchtungsgerätes beförderte.
    «Okay», sagte der Sicherheitsmann und bedeutete ihr, zum türrahmenförmigen Metalldetektor weiterzugehen, wo ein breiter Gewichthebertyp mit ausdruckslosem Gesicht, der vielleicht nicht viel älter als sie war, sie durchwinkte. Es gab keinen Alarm, kein Zögern, als ihre Tasche durchlief, kein Stutzen angesichts ihres stümperhaft gefärbten Haares, nichts.
    David Fremden legte ihr die Hand an den Ellbogen.
    «Gut gemacht», murmelte er.
     
    Und jetzt war die Maschine also auf dem Rollfeld in New York. Sie saßen auf ihren Plätzen und warteten brav darauf, dass der Kapitän die BITTE-ANSCHNALLEN-Zeichen ausschaltete, obwohl manche der Passagiere um sie herum schon unruhig wurden. Lucy versuchte noch immer, nach der Erfahrung der Landung – den knirschenden Geräuschen, mit denen sich das Fahrwerk ausgeklappt hatte, dem plötzlichen, nachbebenden Stoß beim Aufsetzen auf der Landebahn, dem Gefühl, dass ihre Ohren mit einem Pfropfen von klebriger Luft verstopft waren – ihr inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen. Sie versuchte, streng mit sich zu sein. Du bist so eine Vollidiotin, Lucy. So eine hinterwäldlerische Landpomeranze, wovor hast du eigentlich Angst? Wovor hast du Angst?
    Aber die Wahrheit war, dass sie einen Tic im Bein hatte, sie spürte, wie ein Muskel unwillkürlich zuckte, und als sie die Hand auf ihren Oberschenkel legte, hörte sie eine andere Stimme in ihrem Kopf, ein leises, trauriges Wimmern.
    Das will ich alles nicht. Ich glaub, das war ein Fehler.
    Es war so, als ob Schmetterlinge angefangen hätten, sich auf ihr niederzulassen, Hunderte von Schmetterlingen, und jeder einzelne davon war aus Blei. Es dauerte nicht lange, und sie war vollständig damit bedeckt.
    Als ein leiser, tiefer Glockenton erklang, seufzten die übrigen Passagiere auf und begannen en masse aufzustehen, sich in die Gänge zu drängen und die Handgepäckfächer zu öffnen. Sie lehnten sich an die Person, die vor ihnen stand –

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