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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Antwort auf Lager hatte.
    Aber das waren sie nicht mehr, sie waren nicht mehr Lucy und George Orson, also saß sie stumm da, schaute auf ihr Flugticket hinunter, New York – Brüssel, und
    Wer ist Lucy Honeychurch? Wer ist E. M. Forster?
    Es spielte keine Rolle. Es war nicht wichtig, obwohl sie doch wieder an die Frage denken musste, die sie am vergangenen Abend George Orson gestellt hatte: Was ist aus den anderen geworden, denen vor mir?
    Sie konnte sich diese Lucy Honeychurch bildlich vorstellen – eine Blondine, ohne Zweifel, eine, die Pullover aus dem Secondhandladen und eine Nostalgiebrille trug, ein Mädchen, das sich wahrscheinlich für intelligenter hielt, als es tatsächlich war. Hatte er sie ins Lighthouse Motel mitgenommen? Waren sie zusammen durch die Ruinen des überfluteten Dorfes spaziert? Hatte er sie in die Kleider einer anderen gesteckt und sie, mit einem falschen Pass in der Handtasche, in aller Eile zu einem Flughafen geschafft, in eine andere Stadt, einen anderen Staat, irgendwohin ins Ausland?
    Wo ist das Mädchen jetzt?, fragte sich Lucy, als die Leute begannen aufzustehen, als die Passagiere für den Flug nach Brüssel aufgefordert wurden, an Bord zu gehen.
    Wo ist das Mädchen jetzt?, dachte Lucy. Was ist aus ihr geworden?

23
    DAS WAR Banks Island, der Aulavik-Nationalpark. Eine Polarwüste, erklärte ihnen Mr.   Itigaituk mit seiner freundlich-emotionslosen Stimme trocken. Während des Fluges hatte er sie auf verschiedene Wahrzeichen aufmerksam gemacht, als seien sie Touristen auf einer Sightseeingtour: Da war ein Pingo, ein kegelförmiger, vulkanähnlicher Hügel, der statt mit Lava mit Eis gefüllt war; da war Sachs Harbour, ein Häufchen von Häusern an einer unwirtlichen, schlammigen Küste; und da waren die kleinen, ineinander übergehenden Becken der trockenen Täler und – da! – eine Herde Moschusrinder!
    Jetzt aber, wo sie durch die Tundra wanderten, unterwegs zu der Stelle, wo sich die alte Forschungsstation befinden sollte, war Mr.   Itigaituk schweigsam. Alle fünfzehn, zwanzig Minuten blieb er stehen, um auf seinen Kompass zu sehen, sein Fernglas an die Augen zu halten und die graue Fläche von Kies, Schotter und Felsen abzusuchen.
    Miles hatte ein Paar Gummistiefel und eine Jacke bekommen, und er schaute nervös über die Schulter, während er über die feuchten Kiesflächen, durch Pfützen und die kalte, leicht neblige Luft stapfte.
    Lydia Barrie dagegen marschierte mit bemerkenswert anmutigem Schritt – besonders für jemanden, dachte Miles, der mit Sicherheit einen gewaltigen Kater hatte. Aber es war ihr nichts anzusehen, und als Mr.   Itigaituk auf eine mit grau-weißem Fell ausgekleidete schüsselförmige Vertiefung zeigte – den Kadaver eines Fuchses, aus dem sich eine Gans ein Nest gebaut hatte –, betrachtete Lydia sie mit leidenschaftslosem Interesse.
    «Krass», sagte Miles und starrte hinunter auf den Kopf des Fuchses, die um den Schädel straff gespannte Haut, die eingetrockneten Augen, die entblößten und mit Gänsekot übersprenkelten Zähne. Zwei Eier lagen in der gerundeten Mulde aus verrottetem Fell.
    «Treffend formuliert», murmelte Lydia.
     
    Es war schon einige Kilometer her, dass sie zuletzt ein Wort miteinander gewechselt hatten. Natürlich herrschte nach dem, was in der vergangenen Nacht zwischen ihnen vorgefallen war, eine gewisse Verlegenheit, die Scheu nach der Intimität – was das nervöse Hintergrundgeräusch, das er die ganze Zeit hörte, auch nicht gerade leichter machte. Ein Summen in den Ohren, das einfach nicht verstummen wollte.
    Das Ganze war Wahnsinn, dachte er.
    War es überhaupt wahrscheinlich, dass Hayden hierhergekommen war? Dass er wirklich in der Einöde dieser Tundra lebte, in der die Cessna, die sie viele Kilometer hinter sich gelassen hatten, immer kleiner und kleiner geworden und trotzdem noch immer, stecknadelkopfgroß, zu erkennen war?
    Vielleicht war er auf mehr aussichtslosen Jagden gewesen als sie, vielleicht war er zum Fatalisten geworden. Aber das hier sah jedenfalls nicht sehr vielversprechend aus.
    «Wie lange, meinst du, dauert es noch?», fragte er und warf einen taktvollen Blick auf Mr.   Itigaituk, der sich mittlerweile schon an die zehn Meter von ihnen entfernt hatte. «Wissen wir auch genau, dass wir tatsächlich in die richtige Richtung gehen?»
    Lydia Barrie zog die Finger ihrer Handschuhe glatt, während ihre Augen noch immer auf dem Fuchs ruhten, auf den Knochen und dem Fell, das irgendeiner

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