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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Hayden beugte sich schon mit einem schwarzen Tintenstift über die Karte. «Hier gibt es ein paar Pyramiden», sagte Hayden, auf North Dakota deutend, und Miles sah, wie er drei Dreiecke zeichnete, direkt auf der Seite des Atlasses. Mit Tinte!
    «Hayden!», sagte Miles. «Das lässt sich nicht wieder wegradieren. Wir kriegen Ärger!»
    «Ach was», sagte Hayden. «Sei nicht so uncool. Wir verstecken den einfach.»
    Und das wurde eines der ersten Geheimnisse, die sie miteinander hatten – der alte Atlas, auf einem Regalbrett ihres Schlafzimmerschranks unter einem Stapel von Gesellschaftsspielen versteckt.
     
    Miles hatte den alten Atlas noch immer, und während er da am Ufer des Flusses auf die Fähre wartete, holte er ihn heraus und blätterte ihn wieder einmal durch. Dort, an der Nordküste Kanadas, war der Turm zu sehen, den Hayden eingezeichnet hatte, und dazu Miles’ stümperhaft-kalligraphische Legende: DER UNEINNEHMBARE TURM DES DUNKLEN KÖNIGS!
    Wie lächerlich, dachte er. Wie deprimierend – noch als erwachsener Mann der Spur seines zwölfjährigen Ichs zu folgen! Während all der Jahre, in denen er nach Hayden gesucht hatte, hatte er oft mit dem Gedanken gespielt, seine Situation, so gut es ging, zu erklären. Behörden gegenüber, zum Beispiel, oder Psychiatern. Menschen gegenüber, mit denen er sich angefreundet hatte, oder Mädchen, die er mochte. Aber im letzten Augenblick hatte er immer gezögert. Die Details wirkten so albern, so unwirklich und ausgedacht.
    «Mein Bruder hat sehr ernste Probleme.» Das war alles, was er je fertigbrachte, den Leuten zu sagen. «Er ist sehr – krank. Psychisch krank.» Er wusste nicht, was er sonst hätte sagen können.
     
    Als Hayden, damals auf der Junior High School, anfing, die ersten Symptome von Schizophrenie zu zeigen, nahm Miles sie ihm nicht ab. Alles nur Theater, dachte er. Ein Witz. Es war wie das eine Mal, wo dieser Quacksalber von Schulpsychologe sich auf die Idee kapriziert hatte, Hayden sei ein «Genie». Hayden hatte das furchtbar komisch gefunden.
    «Geniiie», sagte er und zog das Wort auf eine verträumte, spöttische Weise in die Länge. Das war am Anfang der siebten Klasse. Es war spätnachts, sie lagen in ihrem Zimmer in ihren Etagenbetten, und Haydens Stimme schwebte in der Dunkelheit von oben herab. «Hey, Miles», sagte er mit dieser unterkühlt-belustigten Stimme, die er manchmal hatte. «Miles, wie kommt’s, dass ich ein Genie bin und du nicht?»
    «Ich weiß es nicht», sagte Miles. Die ganze Sache verblüffte ihn, verletzte ihn vielleicht ein bisschen, aber er legte nur das Gesicht auf das Kissen. «Das ist mir ziemlich egal», sagte er.
    «Wir sind doch identisch», sagte Hayden. «Wir haben exakt die gleiche DNA. Wie ist das also möglich?»
    «Das liegt anscheinend nicht an den Genen», hatte Miles trübsinnig gesagt, und Hayden hatte gelacht.
    «Vielleicht hab ich’s nur besser als du drauf, Leuten was vorzumachen», sagte er. «Die ganze Sache mit dem IQ ist doch sowieso ein Witz. Hast du dir das noch nie überlegt?»
    Als seine Mutter anfing, die Psychiater ins Haus zu holen, musste Miles an dieses Gespräch zurückdenken. Es ist ein Witz , dachte er. Da er Hayden besser kannte, konnte Miles nur annehmen, dass die Therapeuten, die ihre Mutter konsultierte, entsetzlich leichtgläubig sein mussten. Haydens sogenannte Symptome wirkten auf ihn ziemlich melodramatisch und theatralisch und, wie er fand, leicht zu simulieren. Ihre Mutter hatte mittlerweile wieder geheiratet, und Hayden verabscheute ihren neuen Stiefvater, ihre neuen Familienverhältnisse. Miles traute Hayden ohne weiteres zu, sich eine komplizierte List auszudenken – und zu dem Zweck sogar eine schwere Krankheit vorzutäuschen –, nur um Ärger zu machen, nur um ihre Mutter zu verletzen, nur um ein bisschen Spaß zu haben.
    Tat er nur so? Miles war sich nie sicher, selbst als Haydens Verhalten unberechenbarer und abnormer und geheimnistuerischer wurde. Es gab Gelegenheiten, jede Menge Gelegenheiten, da seine «Krankheit» eher wie eine Darbietung wirkte, wie eine verstärkte Version der Spiele, die sie schon die ganze Zeit gespielt hatten. Die «Symptome», die Hayden laut dem Therapeuten zeigte – «elaborierte Phantasiewelten», «fieberhafte Obsessionen», «verwirrtes Denken» und «halluzinatorisch veränderte Wahrnehmung» –, unterschieden sich nicht allzu sehr von dem Verhalten, das Hayden normalerweise an den Tag legte, wenn sie in eines ihrer Projekte

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