Identität (German Edition)
daran, und er glaubte nicht daran, beides zugleich. Das war der Dauerzustand seines Lebens. Hayden war schizophren, und er tat nur so. Er war ein Genie, und er litt an Größenwahn. Er war paranoid, und die Leute hatten es auf ihn abgesehen. Alle diese Dinge waren wenigstens zum Teil gleichzeitig wahr.
In den Jahren seit seinem Verschwinden – seit er aus der psychiatrischen Klinik, in die man ihn eingewiesen hatte, entflohen war – war Hayden immer ungreifbarer geworden, immer weniger als der Bruder zu erkennen, den Miles einst so sehr geliebt hatte. Irgendwann würde der alte Hayden vielleicht gänzlich verschwinden.
Falls er wirklich schizophren war, dann besaß er gleichzeitig eine ungewöhnlich stark ausgeprägte praktische Ader. Er verwischte meisterhaft seine Spuren, zog unbemerkt von Ort zu Ort, wechselte dabei seinen Namen und seine Identität, schaffte es, unterwegs verschiedene Jobs zu bekommen und auf die Leute, die er kennenlernte, überzeugend normal zu wirken. Ja, sympathisch.
Dagegen war Miles derjenige gewesen, der fast das Leben eines Landstreichers geführt hatte. Er war derjenige, der als «fieberhaft», «gestört» und «obsessiv besessen» erschienen sein musste, während er Haydens verschiedenen Decknamen hinterherjagte. Zu spät war er nach Los Angeles gekommen, wo Hayden als «Residualeinkommensberater» namens Hayden Nash gearbeitet hatte; zu spät nach Houston, Texas, wo er bei J.P. Morgan Chase & Co. als Computerservicetechniker namens Mike Hayden angestellt gewesen war. Zu spät kam Miles in Rolla, Missouri, an, wo Hayden auf der Universität als graduierter Mathematikstudent mit dem – grausamen – Namen Miles Spady untergetaucht war.
Zu spät auch in Kulm, North Dakota, nicht weit vom historischen Schauplatz der Schlacht am Whitestone Hill, nicht weit von der Stelle, wo Hayden sich einst die großen Pyramiden der Dakota vorgestellt hatte … Gizeh, Chufu und Chafre … Es war Februar, und dicke Schneeflocken fielen auf die Windschutzscheibe, an der die Scheibenwischer wie große Flügel hin- und herwedelten, während Miles sich vorstellte, dass aus dem verschwimmenden Grau des Schneetreibens die Silhouetten der Pyramiden auftauchten. Sie waren natürlich nicht wirklich da, und ebenso wenig Hayden, aber im Broken Bell Inn, in Napoleon, starrte eine Motel-Angestellte – eine mürrische schwangere junge Frau – das körnig vergrößerte Foto Haydens an und runzelte die Stirn.
«Hmmm», sagte sie.
Anhand des Bildes wäre es schwierig gewesen zu erraten, dass sie eineiige Zwillinge waren. Es war vor Jahren aufgenommen worden, nicht lange nach ihrem achtzehnten Geburtstag, und Miles hatte seitdem ziemlich zugenommen. Wer weiß, vielleicht hatte Hayden das auch. Aber selbst als Kinder waren sie nie wirklich ununterscheidbar gewesen. Es war etwas an Haydens Gesicht – etwas Wacheres, Gierigeres, Freundlicheres –, auf das die Menschen ansprachen, und etwas an Miles, das die entgegengesetzte Wirkung hatte. Letzteres konnte er an der Miene der Motel-Angestellten erkennen.
«Ich glaube, er kommt mir bekannt vor», sagte die Frau. Ihre Augen zuckten vom Foto zu Miles und dann wieder zurück. «Es ist schwer zu sagen.»
«Schauen Sie es sich noch einmal an», sagte Miles. «Es ist kein besonders gutes Foto, ziemlich alt, er könnte sich inzwischen sehr verändert haben. Erinnert Sie das an jemanden, den Sie gesehen haben?»
Zusammen mit ihr schaute er hinunter auf das Foto und versuchte es so zu sehen, wie sie es möglicherweise sah. Es war an Weihnachten aufgenommen worden, in diesen grauenvollen Winterferien, in ihrem letzten Highschool-Jahr, die damit geendet hatten, dass Hayden wieder einmal eingewiesen worden war, aber auf dem Bild sah Hayden geistig vollkommen gesund aus: ein lächelnder Teenager mit freundlichen Augen, der vor einem lamettaglitzernden Tannenbaum stand, die Haare zwar etwas zottelig, aber nichts in seiner Miene, was darauf hindeutete, wie viel Ärger er verursachte – und auch weiter verursachen würde. Während das Mädchen das Bild anschaute, bewegte sich ihr Mund leicht, und Miles fragte sich, ob Hayden sie vielleicht geküsst hatte.
«Lassen Sie sich Zeit», sagte Miles in ruhigem, aber bestimmtem Ton, so wie er das von Krimiserien her kannte.
«Sind Sie Polizist?», sagte die Frau. «Ich weiß nicht, ob wir solche Informationen überhaupt herausgeben dürfen.»
«Ich bin ein Angehöriger», sagte Miles beruhigend. «Er ist mein Bruder, und er wird
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