Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
vermisst. Ich versuche lediglich, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln.»
    Sie betrachtete das Foto noch eine Zeitlang und gelangte dann endlich zu einer Entscheidung.
    «Er heißt Miles», sagte sie und bedachte ihn mit einem kurzen, aber lauernden Blick, bei dem er sich fragte, ob sie lediglich störrisch war und sich weigerte, mit irgendeiner wichtigen Information herauszurücken – und zwar aus keinem anderen Grund, als dass er ihr weniger sympathisch war als Hayden. «Sein Nachname war Cheshire, glaube ich. Miles Cheshire. Schien ein toller Typ zu sein.»
     
    Er erinnerte sich, wie sein Herz sich zusammengekrampft hatte, als sie das sagte. Als sie ihm seinen eigenen Namen genannt hatte. Es war nur ein Witz, dachte er da – ein komplizierter, bösartiger Scherz, den Hayden sich leistete. Was mache ich eigentlich?, hatte er gedacht. Warum mache ich das?
    Das war jetzt fast zwei Jahre her, diese Reise nach North Dakota. Er hatte seine Sachen gepackt und war wieder heimgefahren, im dumpfen Bewusstsein, dass die ganze Kulm-Episode nichts als ein ausgeklügelter Jungenstreich gewesen war. Hayden hatte mal wieder eine seiner lustig-gemeinen manischen Phasen gehabt, und als Miles wieder zu Hause ankam, erwartete ihn ein Buch – No Tears for the General: The Life of Alfred Sully – und dazu ein großer brauner Umschlag, in dem sich ein aus dem Professional Journal of American Schizophrenia herausgerissener Artikel befand; ein Satz war mit gelbem Marker hervorgehoben gewesen: «Wenn ein Zwilling an Schizophrenie erkrankt, besteht für den anderen Zwilling eine 48-prozentige Chance, ebenfalls daran zu erkranken, und zwar häufig spätestens ein Jahr nach dem Geschwister.» Außerdem erwartete ihn eine E-Mail von [email protected], eine weitere hämische Spitze. «Ach, Miles», stand darin. «Fragst Du Dich eigentlich nie, was die Leute von Dir denken, wenn Du mit Deinen Steckbriefen und miesen alten Fotos und Deiner traurigen Geschichte über Deinen verrückten bösen Zwillingsbruder durch die Gegend ziehst? Kommst Du nie auf den Gedanken, dass die Leute Dich abgerissene Gestalt nur einmal anzusehen brauchen, um Dir mit Sicherheit nichts zu erzählen? Sie denken doch bloß: Ach was, Miles ist in Wirklichkeit der Verrückte. Sie denken: Am Ende hat er nicht mal einen Zwillingsbruder. Am Ende ist er nur übergeschnappt! »
    Das war’s, hatte Miles da gedacht, während er die E-Mail las und vor Demütigung errötete. Er war so wütend gewesen, dass er die Sully-Biographie aus dem Fenster geschleudert und dann dem unbefriedigenden Geflatter gelauscht hatte, mit dem sie auf dem Parkplatz gelandet war. Das war’s!, gelobte er sich. Sie waren fertig miteinander. Nichts mehr von meiner Zeit – nichts mehr von meinem Herzen!
    Er würde Hayden vergessen. Er würde sein eigenes Leben leben.
     
    Jetzt erinnerte er sich an diesen Entschluss. Er fiel ihm in aller Deutlichkeit wieder ein, als er da, unrasiert, ungewaschen, im Auto saß und die Flugblätter durchsah, die er mit schlichtem dauerhaftem Karton gedruckt hatte. Oben: HABEN SIE MICH GESEHEN? Darunter das Foto von Hayden.
    Wieder darunter: BELOHNUNG! Obwohl das wahrscheinlich nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprach.
    Er verstellte den Rückspiegel und musterte sich kritisch. Seine Augen. Seinen Gesichtsausdruck. Sah er wie ein Verrückter aus? War er verrückt?
    Es war der 11. Juni. 68° 18' N, 133° 29' W. Die Sonne würde rund fünf Wochen lang nicht mehr untergehen.

7
    IM WARTEBEREICH von Enterprise Auto Rental überprüfte Ryan noch einmal seine Dokumente. Sozialversicherungskarte. Führerschein. Kreditkarten.
    Der ganze Ramsch, der bewies, dass man offiziell ein Mensch war.
    In diesem bestimmten Fall war Ryan offiziell Matthew P. Blurton, vierundzwanzig, aus Bethesda, Maryland. Ryan fand zwar nicht, dass er wie vierundzwanzig wirkte, aber bislang hatte nie jemand Einwände erhoben, also nahm er an, dass es glaubwürdig aussah.
    Er saß höflich da und dachte über einen Song nach, den er gerade auf der Gitarre einstudierte. Dabei hatte er die Tabulatur klar vor Augen, und seine Finger bewegten sich unauffällig über imaginäre Bünde, während seine Hand, nach oben gewandt, auf seinem Oberschenkel lag, die Finger in wechselnden Kombinationen positioniert wie bei einer Zeichensprache.
    Er wusste, dass er besser aufpassen sollte; er würde noch alles vermasseln, wenn er nicht mehr bei der Sache war. Das hätte ihm Jay – sein Vater –

Weitere Kostenlose Bücher