Identität (German Edition)
vertieft waren. Er benahm sich vielleicht etwas übertriebener und theatralischer als üblich, fand Miles, ein bisschen extremer , als Miles lieb war, aber andererseits gab es dafür gute Gründe. Den Tod ihres Vaters beispielsweise. Die zweite Ehe ihrer Mutter. Ihren verhassten Stiefvater, Mr. Spady.
Zu der Zeit, als Hayden zum ersten Mal in eine geschlossene Anstalt eingewiesen wurde, arbeiteten er und Miles noch immer ziemlich regelmäßig an ihrem Atlas. Es war ein besonders komplizierter Abschnitt – die großen Pyramiden von North Dakota und die Zerstörung der Yanktonai-Kultur –, und Hayden konnte einfach nicht aufhören, davon zu reden. Miles erinnerte sich, wie sie eines Abends am Esstisch saßen und ihre Mutter und Mr. Spady mit steinerner Miene zuschauten, wie Hayden das Essen auf seinem Teller herumschob, als seien es Armeen auf einem Schlachtfeld-Modell. «Alfred Sully», sagte er leise, schnell, als spreche er Auswendiggelerntes vor einer Prüfung. «Alfred Sully, General der United States Army, 1st Minnesota Volunteers, 1863. Whitestone Hill, Tah-kah-ha-ku-ty, und da sind die Pyramiden. Schnee fällt auf die Pyramiden, und er zieht seine Streitkräfte am Fuß des Hügels zusammen. 1863 –», sagte er und deutete mit der Gabel auf sein Hähnchenbrustfilet. «Chufu», sagte er, «die zweite Pyramide. Dort führte er seinen ersten Angriff. Alfred Spady, 1863 –»
«Hayden», sagte ihre Mutter in scharfem Ton. «Das reicht.» Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf und hob die Hand leicht, als spielte sie mit dem Gedanken, ihm eine Ohrfeige zu geben, so wie man das bei einem Hysteriker tun mag, der gerade einen Tobsuchtsanfall hat. «Hayden! Schluss damit! Du redest Unsinn.»
Das war streng genommen nicht wahr. Was er sagte, ergab – wenigstens für Miles – durchaus einen Sinn. Hayden sprach von der Schlacht am Whitestone Hill, in der Nähe von Kulm, North Dakota, in deren Verlauf Brigadegeneral Alfred Sully 1863 eine Siedlung der Yanktonai-Indianer zerstört hatte. Pyramiden gab es dort natürlich keine, aber was Hayden ansonsten schilderte, war ziemlich klar, und für Miles sogar recht interessant.
Aber ihre Mutter war entnervt. Die Dinge, die Haydens Therapeut ihr seit einiger Zeit berichtete, beunruhigten sie sehr, und später, als Hayden nach oben gegangen war und sie und Miles Geschirr spülten, sprach sie ihn leise an. «Miles», sagte sie, «ich muss dich um einen Gefallen bitten.»
Sie berührte ihn leicht, und ein Flöckchen Schaum gelangte auf seinen Unterarm und begann sich langsam aufzulösen.
«Du musst aufhören, ihn zu bestärken, Miles», sagte sie. «Ich glaube nicht, dass er sich annähernd so in die Sache hineinsteigern würde, wenn du ihn nicht ermutigen würdest –»
«Tu ich nicht!», sagte Miles, aber er wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus. Er wischte sich mit den Fingern über den Arm, über die feuchte Stelle, wo sie ihn berührt hatte. Ist Hayden krank?, fragte er sich. Tat er nur so? Miles erinnerte sich mit einem mulmigen Gefühl an einige Dinge, die Hayden in letzter Zeit gesagt hatte.
«Ich weiß nicht, ob ich sie nicht früher oder später töten muss», hatte Hayden eines Nachts gesagt, eine Stimme in der Dunkelheit des Schlafzimmers. «Vielleicht werde ich lediglich ihr Leben zerstören, aber es wäre möglich, dass sie tatsächlich sterben müssen.»
«Wovon redest du?», hatte Miles gefragt – obwohl er natürlich wusste, von wem Hayden sprach, und er bekam ein bisschen Angst; er spürte den Puls einer Ader in seinem Handgelenk und hörte dessen leise pochenden Trippelschritt in seinen Ohren. «Mann», sagte er, «warum musst du einen solchen Scheiß reden? Du bringst die Leute dazu, dass sie dich für übergeschnappt halten. Das ist so extrem !»
«Hmmm», sagte Hayden. Seine Stimme kräuselte sich seitwärts durch die Dunkelheit. Schwebte. Nachdenklich. «Weißt du was, Miles?», sagte er schließlich. «Ich weiß einen Haufen Zeug, von dem du keine Ahnung hast. Ich habe Kräfte. Das ist dir doch klar, oder?»
«Halt die Klappe», sagte Miles, und Hayden lachte leise – dieses wehmütige, spöttische Schmunzeln, das Miles als gleichzeitig tröstlich und aufreizend empfand.
«Weißt du, Miles», sagte er. «Ich bin wirklich ein Genie. Ich wollte dich bisher nicht verletzen, aber sehen wir doch den Tatsachen ins Gesicht. Ich habe viel mehr auf dem Kasten als du, also solltest du mir zuhören, okay?»
Okay , dachte Miles. Er glaubte
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