Identität (German Edition)
stampfte und sie aufriss.
Leer.
«Verfickte Scheißbruchbude», sagte er. «Und das soll ein Vier-Sterne-Hotel sein?»
«Was ist los?», fragte sie noch einmal, aber er schüttelte lediglich gereizt den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die ihm wie Büschel von dürrem Gras vom Kopf abstanden.
«Wir bekommen neue Pässe», sagte er. «Wir müssen David und Brooke so schnell wie möglich ausmustern.»
«Mir soll’s recht sein», sagte sie und folgte ihm wieder mit den Augen, als er zum Telefon ging und den Hörer mit einer theatralischen Geste beherrschter Wut von der Gabel nahm.
« Allô, allô? », sagte er. Er atmete einmal durch, und Lucy fand es unheimlich. Als er seinen tiefen, übertriebenen französischen Akzent annahm, schien sich sein Gesicht tatsächlich zu verändern. Seine Lider senkten sich leicht, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, und er hob das Kinn.
« Service des chambres? », sagte er. « S’il vous plaît, je voudrais une bouteille de whiskey. Oui, Jameson, s’il vous plaît. »
«George», sagte sie – wieder falsch, wieder vergessen, dass es «Dad» heißen sollte. «Gibt’s ein Problem?», fragte sie, aber er hob lediglich einen Finger: Schh!
« Oui », sagte er ins Telefon. « Chambre quatorze quarante-et-un », sagte er, und erst dann, erst nachdem er wieder aufgelegt hatte, drehte er sich um und sah sie an.
«Was ist los?», fragte sie. «Gibt’s ein Problem?»
«Ich brauch einen Drink; das ist das Hauptproblem», sagte er, setzte sich aufs Bett und zog einen Schuh aus. «Aber wenn du die Wahrheit hören willst, ich bin ein ganz kleines bisschen besorgt, und ich würde uns gern neue Namen beschaffen. Morgen.»
«Okay», sagte sie. Sie legte Bleakhaus auf den Couchtisch und steckte den Hundert-Dollar-Schein unauffällig in die vordere Tasche ihrer Jeans. «Aber das beantwortet meine Frage nicht. Was ist los?»
«Es ist alles in Ordnung», sagte er kurz angebunden. «Ich bin nur etwas paranoid», sagte er und ließ seinen anderen Schuh auf den Fußboden fallen, einen dieser Herrenslipper, mit Lederbommeln da, wo eigentlich die Schnürsenkel hingehörten.
«Ich möchte, dass du morgen früh runter in den Friseursalon gehst», sagte er. «Schau mal, ob die nicht eine Blondine aus dir machen können. Und lass dir die Haare schneiden», sagte er – und sie meinte, einen Anflug von Widerwillen aus seiner Stimme herauszuhören. «Irgendwas Elegantes. Das sollten die ja wohl hinbekommen.»
Lucy legte sich die Hände an die Haare. Sie hatte sich ihre Brooke-Fremden-Zöpfe noch nicht wieder aufgeflochten, obwohl sie sie schauderhaft fand. Zu kindlich, hatte sie gesagt. «Soll ich sechzehn sein? Oder acht?», hatte sie gefragt, aber als George darauf beharrte, hatte sie sich am Ende doch überreden lassen.
Wollte ich dieses Haar etwa haben? Das hätte sie ihm am liebsten gesagt, nur zur Erinnerung, aber es war wahrscheinlich sowieso egal. Er hatte sein handtellergroßes Notizbuch aus der Tasche seines Anzugjacketts gezogen und schrieb etwas mit seinen pingeligen, winzigen Blockbuchstaben hinein.
«Du lässt dir also morgen früh als Erstes die Haare machen», sagte er. «Anschließend machen wir die Passfotos, und Mittwochvormittag haben wir hoffentlich unsere Pässe. Mittwochnachmittag ziehen wir in ein anderes Hotel. Es wäre gut, wenn wir das Land so bald wie möglich verlassen. Spätestens Samstag möchte ich in Rom sein, allerspätestens.»
Sie nickte, den Blick auf den Teppichboden gerichtet, der mit den Näpfchen kleiner schwarzer Zigarettenbrandlöcher übersät war. Dazu der Überrest eines alten Stücks Kaugummi, so platt wie eine Münze getreten. Anscheinend nicht mehr zu entfernen.
«Okay», sagte sie, obwohl sie jetzt ebenfalls nervös war. Sie hatte das Hotelzimmer bislang nicht ohne George Orson verlassen, und der Gedanke an den Friseursalon machte ihr mit einem Mal Angst. Ich bin nur etwas paranoid , hatte er gesagt, aber sie war sicher, dass er sich nicht ohne guten Grund Sorgen machte, auch wenn er das nicht zugeben wollte.
Sie würde sich grausen, dachte sie, sich ganz allein in den öffentlichen Bereich des Hotels hinauszuwagen.
Vielleicht lag es daran, dass hier alle schwarz waren. Sie würde sich ihres Weißseins bewusst und auf eine Weise sichtbar sein, an die sie gar nicht gewöhnt war, es würde keine Masse geben, in der sie verschwinden könnte. Plötzlich musste sie daran zurückdenken, wie sie und ihre Familie manchmal durch
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