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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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die Augen schloss, hörte er Jay zu jemandem sagen: «Er ist von einer Leiter gefallen. Und seine Hand – ist an einem Draht hängen geblieben. Es ging alles ganz schnell.»
    Warum lügt er?, dachte Ryan wie im Traum.
    Und dann – das Nächste, woran er sich erinnern konnte – lag er in einem Krankenhausbett, sein Unterarmstumpf wie eine Mumie bandagiert, und seine Phantomhand pochte dumpf, und der junge Arzt, Dr.   Ali, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, müde braune Augen, sagte ihm, es gebe eine schlechte Nachricht, wegen seiner Hand. Der Arzt meinte, es sei ihnen nicht möglich gewesen, die Extremität wieder anzunähen; es sei schon zu viel Zeit vergangen, und als ein kleines Krankenhaus seien sie nicht dazu ausgerüstet –
    «Wo ist sie?», sagte Ryan. Das war sein erster Gedanke. Was hatten sie mit seiner Hand gemacht?
    Und der Arzt hatte der knirpsigen blonden Schwester, die ein Stück weiter weg stand, einen Blick zugeworfen. «Unglücklicherweise», sagte der Arzt bedauernd, «ist sie nicht mehr da.»
    «Wo ist mein Vater?», hatte Ryan dann gefragt. Er bekam so weit alles mit, aber nichts davon drang wirklich zu ihm vor. Sein Gehirn fühlte sich flach an, zweidimensional, und er starrte unsicher zur Tür seines Krankenhauszimmers. Er hörte das klipp, klapp von harten Sohlen, draußen auf dem Korridor.
    «Wo ist mein Dad?», fragte er, und wieder tauschten Arzt und Krankenschwester feierliche Blicke.
    «Mr.   Wimberley», sagte der Arzt, «haben Sie eine Telefonnummer, unter der Ihr Vater zu erreichen ist? Gibt es sonst noch jemanden, den wir anrufen sollten?»
    Als Ryan endlich in seine Brieftasche geschaut hatte, hatte er die kurze Notiz gefunden. Die Brieftasche – darin noch immer sein auf Max Wimberley ausgestellter Führerschein – war mit Geld vollgestopft. Fünfzehn Hundert-Dollar-Scheine, ein paar Zwanziger, ein paar Einer, und außerdem war da noch ein zusammengefalteter Zettel, darauf Jays saubere winzige Blockschrift:
     
R – verlass schleunigst das Land. Wir treffen uns in Quito, melde mich, sobald ich kann. Beeil Dich!
     
    Alles Liebe, Jay
     
    In der ersten Zeit nach seiner Ankunft in Quito hatte er jeden Tag mit Jays Ankunft gerechnet. Er musterte die Passanten auf der Plaza und den kopfsteingepflasterten Bürgersteigen, er spähte in die engen, überfüllten Läden, er setzte sich in verschiedene Internetcafés und tippte Jays Namen in Suchmaschinen – alle von Jay verwendeten Namen, an die er sich erinnern konnte. Er checkte jedes E-Mail-Konto, das Jay jemals gehabt hatte, und dann checkte er es noch ein zweites Mal.
    Er wollte sich nicht vorstellen, dass Jay tot war, obwohl es vielleicht einfacher gewesen wäre, als sich vorzustellen, dass Jay schlicht und einfach nicht kam.
    Dass Jay ihn verlassen hatte.
    Dass Jay nicht mal Jay war , sondern irgendein – was? – weiterer Avatar?
    In diesen ersten Monaten stand er auf dem Balkon seiner Wohnung im ersten Stock und lauschte den jungen Straßenhändlerinnen, die vor dem Teatro Bolivar standen, gerade ein paar Blocks weiter. Schöne, traurige Otavaleñas, möglicherweise Schwestern, Zwillinge mit ihrem geflochtenen schwarzen Haar, ihren weißen Bauernblusen und roten Umhängetüchern, die ihre Körbe voll Erdbeeren, Limabohnen oder Blumen vor sich hielten und «Einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar» psalmodierten. Anfangs hatte er geglaubt, die Mädchen sängen. Ihre Stimmen waren so lieblich und melodisch und sehnsuchtsvoll, kontrapunktisch umeinandergeschlungen, bisweilen auch harmonisch vereint: «Einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar, einen Dollar.» Als ob man ihnen das Herz gebrochen hätte.
     
    Jetzt war fast ein Jahr vergangen, und er dachte nicht mehr so viel an Jay. Nicht ganz so oft.
    Nachmittags schlenderte er hinunter zur Calle Flores, zu einem Internetcafé, das er gern besuchte. Es lag direkt hinter der korallenfarbenen, stuckverzierten Fassade des Hotels Viena Internacional, wo amerikanische und europäische Studenten billig wohnen und ecuadorianische Geschäftsleute ein paar Stunden mit einer Prostituierten verbringen konnten. Gerade ein Stückchen den Hügel runter, wo die enge Straße sich abrupt zu einer unbegrenzten Aussicht auf die östliche Bergkette öffnete, schichteten sich die Häuser in Cornrow-Kreisen unter dem dünnblauen Himmel.
    Hier. Lediglich eine offene Tür mit einem handgemalten Schild INTERNET und eine steile krumme Treppe. Ein beengtes Hinterzimmer mit

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