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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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sich der Promenade um die geflügelte Siegesstatue anschloss, ohne es zu wollen, Aufmerksamkeit erregte. Er erinnerte sich an Walcotts Ermahnung: Schau den Leuten nie direkt ins Gesicht! Aber trotzdem passierte es ihm immer wieder, dass abgerissene Schuhputzerjungen ihm hinterherliefen und dabei ihre schrillen, unverständlichen Schreie ausstießen und, wenn er an ihnen vorbeiging, die alten Bauersfrauen mit ihren grauen Zöpfen und Filzhüten ihre Mienen noch weiter verfinsterten. Quito war eine Stadt, in der es von Clowns und Pantomimen geradezu wimmelte, und auch diese zog er an. Ein zerlumptes rotnasiges Skelett auf Stelzen; ein weißgeschminkter Zombie in einem staubigen schwarzen Anzug, der eine Kreuzung mit den Bewegungen eines mechanischen Spielzeugs überquerte; ein älterer Mann mit Lippenstift und grünem Lidschatten und einem rosa Turban, der eine Handvoll Tarotkarten in die Höhe hielt und ihm hinterherrief: « Fortuna! Fortuna! »
    Manchmal war es auch ein College-Junge, mit Rucksack und Sandalen und Secondhand-Militärklamotten, der ihn ansprach. «Hey, Mann! Bist du Amerikaner?»
    Inzwischen passierte ihm das seltener. Er überquerte die Plaza ohne größere Zwischenfälle. Wenn Ryan vorüberging, hob der alte Wahrsager lediglich den Kopf, das Huren-Make-up vom Schweiß angegriffen, traurige Augen, die Ryan folgten, während er weiterging, auf den Präsidentenpalast zu, die weiße Kolonnadenfassade , die Gefängniszellen aus dem 18. Jahrhundert, die einst den Sockel des Palasts gesäumt hatten und jetzt geöffnet und zu Barbierläden, Bekleidungsgeschäften und Fastfood-Lokalen umfunktioniert worden waren.
    Von den Berggipfeln ringsum blickte ein Golgatha von Antennen und Satellitenschüsseln herab. Und durch die Gebäudelücken konnte er manchmal die gigantische Statue auf der Kuppe des Panecillo, die Jungfrau der Offenbarung, in ihrer tänzerischen Pose über das Tal ragen sehen.
     
    Finanziell ging’s ihm nicht schlecht. Trotz der Rückschläge hatte er noch immer ein paar Bankkonten, die nicht entdeckt worden waren, und er hatte angefangen, sehr vorsichtig, Beträge vom einen aufs nächste zu transferieren – ein schmales, stetiges Rinnsal von Geld, das ihm ein behagliches Leben ermöglichte. Er hatte auch ein paar Treuhandfonds eingerichtet, die echte Dividende abwarfen, und es geschafft, sich einen neuen Namen zuzulegen, in dem er sich mittlerweile heimisch fühlte. David Angel Verdugo Cubrero, ein ecuadorianischer Staatsbürger mit Pass und allem Pipapo, und wenn die Leute ihn komisch ansahen, zuckte er die Achseln. «Meine Mutter war Amerikanerin», erklärte er ihnen. Und er eröffnete ein Sparkonto und besorgte David ein paar Kreditkarten, und es schien alles in Ordnung zu sein. Er schien davongekommen zu sein.
    Die Männer, die ihn und Jay überfallen hatten, die Männer, die ihm die Hand abgeschnitten hatten, waren offenbar von seiner Spur abgekommen.
     
    Er vermutete, dass Jay da weniger Glück gehabt hatte.
    Alles, was sich in dieser Nacht ereignet hatte, war nach wie vor wie von Nebel umgeben. Er wusste noch immer nicht, was die Männer eigentlich gewollt oder warum sie darauf beharrt hatten, Jay sei nicht Jay. Warum sie in einer solchen Panik aufgebrochen waren und wie Jay es geschafft hatte, sich von seinem Stuhl zu befreien. Sooft er auch versucht hatte, die einzelnen Ereignisse im Kopf zusammenzufügen, sperrten sie sich weiterhin jeder Ordnung, blieben unlogisch, zufällig, bruchstückhaft.
    Als sie endlich das Krankenhaus erreichten, hatte Ryan schon viel Blut verloren, und aus seinem Gesichtsfeld war jegliche Farbe herausgeschwemmt worden. Ryan erinnerte sich – meinte, sich zu erinnern –, wie sich die Schiebetür automatisch geöffnet hatte und sie in den Empfangsbereich einer Notaufnahme getaumelt waren. Er erinnerte sich an die überraschte, zitternde Krankenschwester in ihrem Kittel mit Luftballonmuster, an ihr verdutztes Gesicht, als Jay ihr die Kühlbox aufgedrängt hatte. «Da ist seine Hand drin», hatte Jay gesagt. «Die können Sie doch wieder dranmachen, oder? Sie bringen das doch wieder in Ordnung, nicht?»
    Er konnte sich erinnern, wie Jay ihn auf den Scheitel geküsst und mit schwerer Zunge geflüstert hatte: «Du wirst nicht sterben; ich liebe dich, mein Sohn; du bist der einzige Mensch, der je für mich da gewesen ist; ich werde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert; du wirst wieder gesund –»
    «Ja», sagte Ryan. «Okay», sagte er, und als er

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