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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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genau das, wovon sie geträumt hatte?
    Das hier war zwar nicht direkt Monaco oder die Bahamas, oder eines der mexikanischen Luxushotels an der Riviera Maya, vor deren Websites sie in schmachtende Verzückung geraten war. Aber er hatte wahrscheinlich recht. Es war für sie eine Gelegenheit, sich erwachsen zu verhalten.
    Als er also am nächsten Morgen mit dem Versprechen aufbrach, noch vor Mittag zurück zu sein, wappnete sie sich innerlich.
    Sie zog ein schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans an, ein Outfit, das zwar nicht direkt erwachsen, aber doch zumindest altersneutral war. Sie bürstete ihr Haar aus und fand den Lippenstift, den sie sich damals gekauft hatte, als sie mit dem Maserati über Land gefahren waren. Da war er, kaum benutzt, noch immer in einem Seitentäschchen ihrer Handtasche.
    Zusätzlich legte sie fünfhundert Dollar in ihre Handtasche, und das übrige Geld wickelte sie in ein schmutziges T-Shirt und stopfte es zuunterst in den billigen, kleinmädchenhaften Brooke-Fremden-Rucksack, den George Orson ihr in Nebraska gekauft hatte.
    Okay, dachte sie. Sie tat es wirklich.
    Und sie stieg in den Fahrstuhl, cool und selbstsicher, und als im nächsten Stock ein Mann zustieg – Soldat, in Felduniform und blauem Barett, rote Streifen auf den Schultern –, behielt sie ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht bei, so als habe sie ihn gar nicht bemerkt, so als sei ihr überhaupt nicht bewusst, dass er sie mit unverwandter Missbilligung ansah und eine Pistole im Gürtelhalfter hatte.
    Sie fuhr, allein mit ihm, schweigend, weiter bis zum Parterre, und als er ihr die Fahrstuhltür aufhielt und eine galante Geste machte – Ladies first –, murmelte sie « Merci »und trat in die Lobby.
    Sie tat das wirklich, dachte sie.
     
    Ihr Haar nahm viel Zeit in Anspruch, aber insgesamt lief die Sache glatter, als sie gedacht hatte. Sie war ängstlich, als sie den Salon betrat, der, abgesehen von den zwei Angestellten, leer war – einer mageren, hochmütigen, mediterran wirkenden Frau, die so aussah, als erfüllten Lucys T-Shirt und Jeans sie mit Ekel; und einer afrikanischen Frau, die sie mit milderem Blick bedachte.
    « Excusez-moi », sagte Lucy hölzern. « Parlez-vous anglais? »
    Ihr war bewusst, wie unbeholfen sie klang, obwohl sie sich um ihre allerbeste Aussprache bemühte. Sie erinnerte sich an die mitleidigen Grimassen, die Mme. Fournier auf der Highschool geschnitten hatte, wenn Lucy sich in der Stunde durch eine inszenierte Französisch-Konversation quälte. «Oh!», sagte Mme. Fournier. « Ça fait mal aux oreilles! »
    Aber eine simple Frage brachte Lucy doch wohl zustande, oder? So schwer war das ja schließlich auch nicht.
    Und es war okay. Die Afrikanerin nickte ihr höflich zu. «Ja, Mademoiselle», sagte sie. «Ich spreche Englisch.»
    Die Frau erwies sich sogar als richtig nett. Sie machte zwar allerlei missbilligende Geräusche wegen Lucys Koloration – «entsetzlich», murmelte sie –, glaubte aber dann doch, sie könne daraus etwas machen. «Ich werde mein Bestes für Sie tun», erklärte sie Lucy.
    Die Frau hieß Stephanie, und sie kam aus Ghana, wie sie sagte, wohnte allerdings schon seit vielen Jahren in Côte d’Ivoire. «Ghana ist ein englischsprachiges Land. Englisch ist meine Muttersprache», sagte Stephanie. «Deswegen freue ich mich, ab und zu Englisch sprechen zu können. Das ist eine Eigenart der Ivoirer, die ich einfach nicht begreife. Wenn ein Ausländer Französisch spricht und dabei einen Fehler macht, lachen sie ihn aus, deswegen weigern sie sich, selbst wenn sie es ein bisschen können, Englisch zu reden. Warum? Weil sie befürchten, dass die Englisch-Muttersprachler sie dann ihrerseits auslachen würden!» Und während sie dann mit ihren gummibehandschuhten Fingern durch Lucys Haare strich, senkte sie die Stimme. «Das ist das Problem mit Zaina. Meiner Kollegin. Sie hat ein gutes Herz, aber sie ist Libanesin, und das sind sehr stolze Menschen. Die ganze Zeit sorgen sie sich um ihre Würde.»
    «Ja», sagte Lucy und schloss die Augen. Wie lange es her war, dass sie mit jemandem außer George Orson gesprochen hatte? Es waren – was? – Monate gewesen, und bis zu diesem Augenblick war ihr fast nicht bewusstgeworden, wie einsam sie gewesen war. Sie hatte nie einen größeren Freundeskreis gehabt, hatte auf der Highschool die Gesellschaft der anderen Mädchen nie sonderlich geschätzt, aber jetzt, da Stephanies Fingernägel ihr sanfte Linien über die Kopfhaut zogen, erkannte sie,

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