Identität (German Edition)
Reihen von uralten, schmutzigen Computern.
Der Besitzer war ein alter Amerikaner. Raines Davis, vielleicht siebzig Jahre alt, saß hinter dem Tresen und füllte einen Aschenbecher langsam mit Zigarettenstummeln. Sein dichtes weißes Haar hatte einen gelblichen Stich, als sei es vom Rauch getönt.
Oft war das Lokal voll von Studenten, alle über ihre Tastaturen gebeugt, die Augen starr auf die Monitorkästen gerichtet, aber manchmal, am Spätnachmittag, war es mehr oder weniger leer, und das war Ryans liebste Zeit, sehr still, sehr diskret, und knapp unter der Zimmerdecke die dünne Zirrusschicht von Zigarettenrauch. Ja, manchmal tippte er «Ryan Schuyler» in die Suchmaschine, nur um zu sehen, ob es irgendwelche Treffer gab; sah sich Satellitenbilder von Council Bluffs an – die Technik war mittlerweile so weit, dass man sein Haus sehen konnte, man Staceys Auto in der Auffahrt sehen konnte, wie es zurücksetzte, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit.
Er hatte sich sogar gefragt, was wohl passieren würde, wenn er sich bei ihnen meldete, wenn er sie wissen ließe, dass er doch noch am Leben war. Würde das freundlich oder grausam sein?, fragte er sich. Würde man sich wirklich darüber freuen, wenn die Toten ins Leben zurückkehrten, nachdem man so viel Energie darein investiert hatte, die eigene Welt, so gut es ging, wieder in Ordnung zu bringen? Er wusste es nicht – wusste nicht, wen er hätte fragen können –, obwohl er sich schon vorstellen konnte, diese Frage eines Tages, wenn sie sich besser kannten, Mr. Davis vorzulegen.
Mr. Davis war kein gesprächiger Mensch, aber von Zeit zu Zeit plauderten sie ein bisschen miteinander. Er war ein alter Soldat, Mr. Davis. Ein echter Heimatloser. Aufgewachsen in Idaho, lebte er seit mittlerweile dreißig Jahren in Quito und rechnete nicht damit, je nach Amerika zurückzukehren. Er denke nicht einmal mehr daran, sagte er.
Und Ryan hatte genickt.
Er stellte sich vor, dass es einen Punkt geben müsste, an dem man aufhörte, ein Besucher zu sein. Wenn die Touristen abgeflogen waren, wenn die Austauschstudenten aufgehört hatten, einen auf eingeboren zu machen, wenn die Vorstellung von «der Heimat» anfing, sich nur noch wie ein theoretisches Konstrukt anzufühlen: Wie unendlich fern das Kind, das er für Stacey und Owen Schuyler gewesen war. Wie fern der linkische, übereifrige Freund, der er für Pixie, der Zimmergenosse, der er für Walcott, der Sohn, der er für Jay gewesen war.
War das hier auch nur um einen Deut weniger real als die kleinen, vergänglichen Ichs, die er abgelegt hatte? Kasimir Czernewski, Matthew Blurton, Max Wimberley.
An einem bestimmten Punkt musste es möglich sein, sich zu entwinden. An einem bestimmten Punkt erkannte man, dass man freigelassen worden war.
Man konnte jeder x-Beliebige werden, dachte er.
Man konnte jeder x-Beliebige sein.
25
GEORGE ORSON war langsam am Durchdrehen. Er wachte mitten in der Nacht, wild um sich schlagend, mit einem Schrei auf, und dann saß er, bei eingeschalteter Nachttischlampe und laufendem Fernseher, mit angezogenen Knien da. «Ich hab wieder schlimme Träume», sagte er, und Lucy saß unbehaglich neben ihm, während er ein langes, fruchtloses Schweigen ausstrahlte.
Es war ihr zweiter Tag in Afrika, eingesperrt in einem Zimmer im vierzehnten Stock des Hotels Ivoire, und George Orson ging aus und kam zurück, ging aus und kam zurück, und bei jeder Rückkehr sah er erhitzter und entnervter aus.
In der Zwischenzeit hatte Lucy in ihrem gemeinsamen Zimmer gesessen, hoch oben in einem Hotel-Wolkenkratzer, gelangweilt und selbst ziemlich ausgeflippt vor Angst, hatte behutsam Geldscheine von Buchseiten gelöst und hinunter auf die dichtbefahrene Schnellstraße gestarrt. Sechs Spuren von Autos, über die ganze Länge der Ébrié-Lagune – die nicht so urlaubsprospektblau war, wie sie erwartet hatte, sondern ganz normal grau, nicht viel anders als der Eriesee. Wenigstens gab es Palmen.
Sie hörte ihn an der Tür, am Türknauf rütteln, vor sich hin murmeln, und als er endlich hereinplatzte, warf er die Schlüsselkarte auf den Teppichboden und fletschte die Zähne.
«Arschlöcher», sagte er und schmiss seinen Aktenkoffer aufs Bett. «Gottverdammte, verfickte Scheiße», sagte er, und Lucy stand da, einen Hundert-Dollar-Schein in der Hand, und blinzelte ihn alarmiert an. Sie hatte ihn bis dahin noch niemals fluchen hören.
«Was ist los?», fragte sie und folgte ihm mit den Augen, als er zur Minibar
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