Identität (German Edition)
die schwarzen Viertel von Youngstown gefahren waren, was für ein Gefühl es gewesen war, wenn die Leute auf der Straße und an den Bushaltestellen aufgeschaut und sie angestarrt hatten. Als ob ihr altes Auto eine Aura von Weißsein hinter sich hergezogen hätte, als ob sie phosphoreszierte. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter immer auf die Zentralverriegelung drückte und sich dann mehrfach vergewisserte, dass die Türen auch wirklich verschlossen waren.
«Das ist eine üble Gegend, Mädchen», sagte ihre Mutter, und Lucy hatte die Augen verdreht. Wie rassistisch , hatte sie gedacht und ihre Tür immer extra wieder entriegelt.
Das hier war natürlich etwas anderes. Es war Afrika. Es war ein Land der Dritten Welt, ein Ort der Putschversuche und bewaffneten Aufstände und Kindersoldaten, und sie hatte die Sicherheitshinweise des Außenministeriums gelesen: Amerikaner sollten Menschenansammlungen und Demonstrationen meiden, ihre Umgebung beobachten und gesunden Menschenverstand einsetzen, um Situationen und Orte zu umgehen, die gefährlich sein könnten. Aufgrund der herrschenden starken antifranzösischen Ressentiments könnten Personen von nichtafrikanischem Aussehen verstärkt Ziel von Gewaltakten werden .
Aber ein Feigling wollte sie andererseits auch nicht sein, also stand sie einfach da und schaute zu, wie George Orson seine Socken auszog und sich den Ballen des nackten Fußes mit dem Daumen massierte.
«Sprechen die Englisch?», sagte sie schließlich, zögernd. «Im Friseursalon? Was, wenn die kein Englisch können?»
Und George Orson hob die Augen und sah sie streng an. «Ich bin sicher, dass die jemand dahaben, der Englisch kann», sagte er. «Abgesehen davon – Liebling, du hast auf der Highschool drei Jahre Französisch gehabt, und das müsste eigentlich vollauf genügen. Soll ich dir ein paar nützliche Sätze aufschreiben?»
«Nein», sagte Lucy und zuckte die Achseln. «Nein – ich komm wohl … ich komm wohl zurecht», sagte sie.
Aber George Orson stieß einen gereizten Seufzer aus. «Hör zu», sagte er. «Lucy», sagte er, und sie merkte ihm an, dass er ihren wirklichen Namen ganz bewusst verwendete, um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. «Du bist kein kleines Kind. Du bist eine erwachsene Frau. Und du bist sehr intelligent, das habe ich dir schon immer gesagt. Ich habe Lucy gesehen und direkt gewusst: Das ist eine bemerkenswerte junge Frau. Und jetzt», sagte er. «Jetzt musst du lediglich ein bisschen selbständiger werden. Willst du den Rest deines Lebens damit zubringen, darauf zu warten, dass jemand dir sagt, was du tun sollst – auf Schritt und Tritt? Ich meine, Herr Jesus, Lucy! Du gehst runter in die Lobby, du sprichst Englisch, oder du kratzt ein paar Brocken Pidginfranzösisch zusammen, oder du machst dich mit Zeichensprache verständlich, und ich wette, du kriegst es hin, dir die Haare machen zu lassen, ohne dass dich jemand die ganze Zeit an der Hand halten muss.»
Er warf die Arme in die Höhe und ließ sich mit einem theatralisch entnervten Seufzer rücklings aufs Bett fallen, als würden sie vor Publikum spielen, als sei da noch jemand außer ihnen, um dessen Mitgefühl er buhlte. Hält man’s für möglich, dass ich mich mit so was abgeben muss?
Sie wünschte, ihr würde eine eiskalte, messerscharfe Replik einfallen.
Aber sie konnte überhaupt keinen Gedanken fassen. Sprachlos: dass er so mit ihr redete, nach all seinen Lügen und Ausflüchten, nach der ganzen Zeit, die sie im Lighthouse Motel verwartet hatte, geduldig und treu – und jetzt hieß es, sie sei nicht «selbständig»?
«Ich brauch einen Drink», murmelte George Orson verdrossen, und Lucy stand einfach so da und starrte auf ihn hinunter. Dann endlich wandte sie sich wieder ihrem Buch zu, Bleakhaus , setzte sich damit hin wie mit einem Pullover, an dem sie strickte, und fing wieder an, die eingeklebten Geldscheine abzulösen. Dabei beobachtete sie, wie der durchsichtige Klebestreifen die Buchstaben vom alten Papier mitgehen ließ.
Also gut, dann würde sie also selbständig sein.
Sie war schließlich eine Globetrotterin. Allein in der letzten Woche hatte sie zwei neue Kontinente besucht – auch wenn Europa lediglich in einem kurzen Zwischenstopp in Brüssel bestanden hatte, aber schon bald würde sie in Rom wohnen. Sie würde kosmopolitisch sein, war es nicht das, was George Orson ihr damals, vor so vielen Monaten, als sie von Pompey, Ohio, weggefahren waren, gesagt hatte? War es nicht
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