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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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war der Schlimmste von allen, und nachts, wenn die anderen schliefen, machte sich Bill McGregor auf die Suche nach Hayden, sein Schritt langsam und hohl auf den Decksplanken, seine Stimme ein tiefes Flüstern.
    «Junge», murmelte er. «Wo bist du, Junge?»
    Nachdem Bill McGregor ein Stück von Haydens Ohrläppchen abgeschnitten hatte, wollte er mehr. Jedes Mal, wenn er Hayden erwischte, schnitt er ihm ein weiteres Stück von seinem Körper ab. Die Haut eines Ellbogens, die Kuppe eines Fingers, ein Stück seiner Lippe. Er packte den sich windenden Hayden und schnitt ein Stück von ihm ab, und dann aß Bill McGregor das Stück Fleisch.
    «Und wenn ich genug mit dir gespielt hab», flüsterte Bill McGregor, «schleich ich mich irgendwann von hinten an dich ran und –»
    Und genau das tat er, laut Hayden, schließlich auch. Es war eine Frühlingsnacht, und Bill McGregor kam von hinten an Hayden heran, presste ihm eine Hand fest auf die Augen, schlitzte ihm die Kehle auf und warf ihn über Bord, sodass Hayden strampelnd in die See fiel, die Hände um die Kehle gekrampft, als wollte er sich selbst erwürgen, während zwischen seinen Fingern Blut hervorgurgelte. Er sah ein Geriesel von Blutströpfchen nach oben spritzen, als er kopfüber in den Ozean stürzte – und war sich dabei des Mondes und des Sternenhimmels bewusst, die unter seinen Füßen verschwanden, des schlürfenden Geräusches, das er erzeugte, als er ins Wasser klatschte, der davonstiebenden Fische, als er tiefer sank, der Bänder von Seetang, verwirbelnder Schwalle von Jugularblut, seines auf- und zuklappenden Mundes, seiner erschlaffenden Gliedmaßen.
    Des exakten Augenblicks seines Todes.
     
    Ja, natürlich wusste Miles davon. Als sie Kinder waren, hatte Hayden den Traum regelmäßig gehabt, manchmal ein-, zweimal die Woche. Hayden sprang dann in Miles’ Koje hinunter und schlüpfte zu ihm unter die Decke, und wenn Miles dann noch nicht wach war, schüttelte er ihn, bis er es war. «Miles», sagte er. «Miles! Albträume! O Gott! Albträume!» Und er wickelte sich um Miles herum, als ob sie wieder im Bauch ihrer Mutter wären.
    Miles hatte sich immer einiges darauf eingebildet, dass er ein guter Bruder war. Er wurde nie ärgerlich, egal, wie oft er die Geschichte von Bill McGregor und so weiter zu hören bekam.
    Als er aber mal etwas in der Richtung äußerte, blieb Hayden eine ganze Weile stumm.
    «Oh, stimmt», sagte Hayden zuletzt. «Du warst mir ja so ein guter Bruder.»
    Sie saßen da und hörten einander beim Atmen zu. An Haydens Ende der Leitung ertönte das Blubbern einer Bong. Nicht weiter überraschend.
    Ja, Miles wusste, worauf Hayden hinauswollte. Er meinte, dass Miles zu ihm halten solle, komme, was da wolle. Dass er seine Beziehung zu ihrer Mutter und dem Rest der Familie einfach wegwerfen und sich auf seine Seite schlagen solle, gleichgültig, wie extrem seine Geschichten, Reaktionen und Vorwürfe würden.
    Das war kein Thema, über das Miles gern diskutierte, aber mit Hayden ließ sich das kaum umgehen. Früher oder später kehrte jedes Gespräch zu seinen verschiedenen Obsessionen zurück, seinen Albträumen, seinen Erinnerungen, seinem Groll gegen ihre Eltern und Verwandten.
    «Seine pathologischen Lügen», nannte ihre Mutter sie. «Er ist ein zutiefst gestörter Mensch, Miles», sagte sie zu den verschiedensten Gelegenheiten. Sie hielt ihm vor, er lasse sich zu leicht täuschen, er sei zu sehr Haydens Gefolgsmann – «sein kleines Faktotum», sagte sie giftig.
    Das war zu der Zeit, als sie versuchte, Hayden in eine geschlossene Anstalt einweisen zu lassen, und sie sagte: «Wart’s nur ab, Miles, Schätzchen, eines Tages wird er dich genauso verraten, wie er jeden anderen auch verraten hat. Es ist nur eine Frage der Zeit.»
     
    Und so, als Hayden anrief und sagte, er brauche Hilfe, die Hilfe seines Bruders – «Nur ein bisschen reden, ich kann nicht schlafen, Miles, bitte, red einfach nur mit mir» –, tja, da konnte Miles nicht umhin, an die Warnung seiner Mutter zu denken.
    Besonders schwierig war es, wenn Hayden so stur auf seiner Version ihrer Vergangenheit, seiner Version bestimmter Ereignisse beharrte. Ereignisse, die, da war sich Miles ziemlich sicher, nie wirklich stattgefunden hatten.
    «Was ich irgendwie nicht ganz kapiere», sagte Miles seinem Bruder – sie redeten mittlerweile seit Stunden über frühere Existenzen und Piraten, und so erschöpft er auch war, bemühte sich Miles, gutmütig und vernünftig zu

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