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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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einfach.»
    «Miles, Miles», sagte Hayden. «Ich finde es toll, dass du dir meinetwegen Sorgen machst!»
    Er behauptete, er wohne jetzt in Los Angeles; angeblich hatte er einen Bungalow in Silver Lake, ganz in der Nähe des Sunset Boulevard. «Wenn du mich suchen kommst», sagte er, «wirst du mich nicht finden, aber wenn du dich dadurch besser fühlst: Dort bin ich.»
    «Ich bin erleichtert», sagte Miles, und er nahm eine der gelben Haftnotizen, die er immer auf dem Nachttisch liegen hatte, und schrieb «Sunset Blvd». Und «Silver Lake».
    «Ich bin auch erleichtert», sagte Hayden. «Du bist der Einzige, mit dem ich wirklich reden kann, das weißt du doch, oder?» Miles hörte, wie Hayden einen langen Atemzug tat beziehungsweise, wie er vermutete, einen Zug an einem Joint. «Du bist der einzige Mensch auf der Welt, der mich noch immer liebt.»
     
    Hayden hatte viel über ihre Kindheit nachgedacht – oder besser gesagt, über seine Kindheit, denn die Wahrheit war, dass sich Miles an keine der Begebenheiten erinnern konnte, die Hayden so verfolgten. Doch Miles behielt seine Einwände für sich. Es war das erste Mal seit ihrem Streit, dass Hayden ihn angerufen hatte, und Miles starrte schweigend auf seine kleine Haftnotiz, während Hayden daherschwadronierte.
    «Ich hab in letzter Zeit viel an Mr.   Breeze gedacht», sagte Hayden jetzt. «Erinnerst du dich an ihn?»
    Und Miles zögerte. «Tja», sagte er, und Hayden machte ein ungeduldiges Geräusch.
    «Das war dieser Hypnotiseur, weißt du nicht mehr?», sagte Hayden. «Er war ziemlich gut mit Mom und Dad befreundet. Er war damals immer auf diesen Partys dabei. Ich glaube, eine Zeitlang ist er mit Tante Helen gegangen.»
    «M-hm», sagte Miles unverbindlich. «Und er hieß ‹Mr.   Breeze›?»
    «Das war wahrscheinlich sein Künstlername», sagte Hayden. Seine Stimme bekam einen gereizten Ton. «Herrje, Miles, du erinnerst dich aber auch an gar nichts. Du hast nie richtig aufgepasst, weißt du das?»
    «Wahrscheinlich nicht», sagte Miles.
     
    Der Zwischenfall mit Mr.   Breeze ereignete sich laut Haydens Erzählung auf einer dieser Partys, die ihre Eltern häufiger veranstalteten. Es war spätnachts, nach Mitternacht, und Hayden kam im Pyjama herunter in die Küche, weil er nicht schlafen konnte. Er hatte auf der oberen Koje des Etagenbetts geschwitzt, der Ventilator der Lüftungsanlage blies von der Zimmerdecke aus auf ihn herunter, während die Geräusche vom Erdgeschoss her, die Musik, das Lachen und das tiefe Gesumm von redenden Erwachsenen, durch die Dielen gedrungen waren, sich in seine Träume eingeschlichen und ihn schließlich geweckt hatten. Miles dagegen hatte natürlich friedlich in der unteren Koje weitergeschlafen. Unvernünftig , wie immer.
    Die beiden, Miles und Hayden, waren damals acht, aber klein für ihr Alter, und Hayden sah süß und feierlich aus, wie er da in der Küche stand und sein Glas Wasser trank. Mr.   Breeze hob ihn hoch und setzte ihn auf einen der hohen Hocker am Frühstückstresen.
    «Sag mir eins, mein Junge», sagte Mr.   Breeze mit seiner tiefen Stimme. «Weißt du, was ‹Kryptomnesie› bedeutet?»
    Mr.   Breeze sah hinunter in Haydens Augen, als bewunderte er sein eigenes Spiegelbild in einem Teich, dann hob er seinen Zeigefinger und hielt ihn dicht vor die Mitte von Haydens Stirn, ohne sie allerdings zu berühren.
    «Erinnerst du dich jemals an Dinge, die dir in Wirklichkeit nie passiert sind?», sagte Mr.   Breeze.
    «Nein», sagte Hayden. Er erwiderte Mr.   Breezes Blick, ohne zu lächeln, so wie er immer Erwachsenen in die Augen sah: dreist. Ihre Tante Helen war hereingekommen, blieb da stehen und sah ihnen zu.
    «Portis», sagte sie. «Ärger das Kind nicht.»
    «Tu ich gar nicht», sagte Mr.   Breeze. Er trug schwarze Jeans und ein geblümtes Cowboyhemd, und seine Falten um den Mund sahen so aus, als habe sie jemand hineingebügelt. Er sah Hayden freundlich ins Gesicht.
    «Du hast doch keine Angst, oder, junger Mann?», sagte Mr.   Breeze. Nebenan hörte man die Geräusche der Party, bluesigen Rocksong, ein paar Leute tanzten eng; draußen im Garten weinte eine betrunkene Dame bitterlich, während eine betrunkene Freundin ihr Ratschläge zu geben versuchte.
    «Wir werden bloß einen klitzekleinen Blick in seine vergangenen Existenzen werfen», erklärte Mr.   Breeze Tante Helen. Und er strahlte Hayden an. «Was hältst du davon, Hayden? All die Leute, die du früher mal gewesen bist, vor langer, langer

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