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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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klingen. «Was mich ein bisschen verwirrt», sagte Miles, «ist die Sache mit diesem Typ. Mr.   Breeze. Ich kann mich ehrlich nicht daran erinnern, dass du mir früher je was über ihn erzählt hättest, und ich denke mal, das hättest du doch bestimmt getan!»
    «Ach, ich hab dir von ihm erzählt», sagte Hayden. «Selbstverständlich hab ich das.»
    Das war ein paar Wochen nachdem es mit dieser neuen Zwangsvorstellung vom «Hypnotiseur in der Küche» angefangen hatte. Miles stand mit heruntergekurbeltem Fenster auf einem Rastplatz an der Interstate und sprach in ein Drive-in-Münztelefon. Es war wahrscheinlich zwei Uhr nachts. Eine Straßenkarte der Vereinigten Staaten war auf dem Lenkrad ausgebreitet.
    Hayden sagte gerade: «… vielleicht liegt darin das Problem, dass du so viel von unserer Kindheit verdrängt hast. Hast du je über diese Möglichkeit nachgedacht?»
    «Tja», sagte Miles. Er trank einen Schluck aus einer Wasserflasche.
    «Ich hab doch mein ganzes Leben darunter zu leiden gehabt», sagte Hayden. «Erinnerst du dich an Bobby Berman? Erinnerst du dich an Amos Murley?»
    «Ja», sagte Miles – und es stimmte, das waren vertraute Namen aus ihrer Kindheit, vertraute Personen aus Haydens Albträumen. Bobby Berman war der Junge, der gern mit Streichhölzern spielte und der in einem Werkzeugschuppen hinter dem Haus verbrannt war; Amos Murley war der Halbwüchsige, der während des Bürgerkriegs zur Unionsarmee eingezogen worden war, der junge Soldat, der starb, während er sich mit weggeschossenen Unterschenkeln über ein Schlachtfeld schleppte. Ihre Mutter nannte sie immer Haydens «Phantasiegestalten».
    «Ach, Hayden», sagte sie dann entnervt. «Warum kannst du dir keine Geschichten über glückliche Menschen ausdenken? Warum muss immer alles so makaber sein?»
    Und dann errötete Hayden und zuckte beleidigt die Schultern. Er sagte nichts. Erst viel später fing Hayden an zu behaupten, die Figuren seiner Träume seien seine eigenen früheren Existenzen. Diese «Gestalten» seien in Wirklichkeit Menschen, die er tatsächlich selbst gewesen sei. Und das entsetzliche Leben, das er in ihrer Familie führte, lediglich ein weiteres in der Reihe von entsetzlichen Leben, die er schon geführt habe.
    Doch erst als ihr Vater gestorben war, hatte Hayden begonnen, die wahre Natur seines Leidens zu begreifen.
    Zumindest war dies die Version der Ereignisse, die er gegenwärtig vertrat. Erst als ihr Vater gestorben war, ihre Mutter noch einmal geheiratet hatte und der verhasste Marc Spady mit ihnen unter einem Dach lebte. Erst dann begann er das Ausmaß dessen zu erkennen, was Mr.   Breeze in seinem Inneren «geöffnet» hatte.
    «Darauf war ich nämlich einfach nicht gefasst gewesen», sagte Hayden. «Ich habe mit der Zeit begriffen, dass es nicht nur mich betraf – es betraf jeden.»
    Langsam, aber sicher, sagte Hayden, sei ihm ein Licht aufgegangen. Ihm sei klargeworden, dass er nicht der einzige Mensch sei, der solche früheren Existenzen habe. Natürlich nicht! Nach und nach – in Menschenmengen, in Restaurants, in Gesichtern im Fernsehen, in kleinen Gesten von Klassenkameraden und Verwandten –, nach und nach hatte er angefangen, undeutliche Momente der Wiedererkennung zu spüren. Ein Auge, das zum Seitenblick rollte; die Finger einer Kassiererin, die seine Handfläche berührten; der verfärbte Schneidezahn ihres Geometrielehrers; die Stimme ihres Stiefvaters, Marc Spady, die laut Hayden exakt die heisere Stimme des Piraten Bill McGregor war.
    Als ihr Vater starb, begann Hayden, in jedem Gesicht Verbindungen zu erkennen. Wann hatte er dieses eine schon gesehen? In welcher Existenz? Ohne Zweifel war fast jede Seele in der einen oder anderen Permutation schon jeder anderen begegnet, waren sie alle wechselseitig verknüpft, ineinander verwirrt, überschnitten sich ihre Pfade immer wieder auf dem Weg zurück in die Urzeit, in Raum und Unendlichkeit wie eine entsetzliche mathematische Formel.
     
    Es hing eindeutig mit dem Tod ihres Vaters zusammen, dachte Miles. Davor war Hayden lediglich ein Junge mit überdurchschnittlich lebhafter Phantasie gewesen, der Albträume hatte, und Mr.   Breeze, falls er überhaupt existierte, einfach einer der ungewöhnlichen Bekannten ihres Vaters, der sich auf einer Party betrunken hatte.
    «Ach, verschon mich damit!», sagte Hayden, als Miles diese Möglichkeit andeutete. «Wie platt!», sagte er. «Hat Mom dir das eingeredet? Dass ich ‹schizophren› geworden bin,

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