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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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weil ich mit Dads Tod nicht klarkam? Ich weiß, dass es dir nicht passt, wenn ich mich abfällig über deine Intelligenz äußere, aber jetzt mal ernsthaft. Das ist so was von einfältig …»
    «Schön», sagte Miles. Er wollte keine Diskussion darüber anfangen, aber im Prinzip war es das, was Hayden selbst gesagt hatte. Es war unverkennbar gewesen, dass Hayden in den Monaten nach dem Tod ihres Vaters eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hatte. Das war, als sie dreizehn waren, ein Jahr nachdem sie angefangen hatten, gemeinsam an dem Atlas zu arbeiten, und Hayden immer mürrischer und mürrischer, zorniger, verschlossener wurde. Miles hatte damals den Eindruck gehabt, dass Hayden plötzlich stärker auf bestimmte Andenken und Erinnerungsstücke des Toten ansprach – auf all die unbedeutenden Gegenstände im Haus, die jetzt kraft der Abwesenheit ihres Vaters leuchteten und die Hayden angefangen hatte zusammenzutragen. Hier ein Kaugummipapierchen, das ihr Vater gedankenlos zu einem Origami-Vogel gefaltet und zusammen mit etwas Kleingeld auf seiner Kommode liegengelassen hatte. Dort ein Bleistift mit den Abdrücken seiner Zähne, eine einzelne Socke, eine Zahnarzt-Terminkarte.
    Seine Stimme auf dem Anrufbeantworter, die sie vergessen hatten zu löschen, bis Hayden eines Tages zu Hause anrief und sich nach langem Klingeln ihres Vaters Stimme meldete:
    «Hallo. Sie haben es geschafft: Sie sind mit der Cheshire-Residenz verbunden …»
    Eindeutig eine Aufzeichnung; das merkte man schon nach einer Sekunde.
    Aber diese eine Sekunde! Diese eine Sekunde lang konnte das Herz schon einen Sprung tun, konnte man sich schon vorstellen, es sei alles nur ein böser Traum gewesen, es sei ein Wunder geschehen.
    «Dad?», sagte Hayden und hielt den Atem an.
    Er und Miles waren im Freizeitzentrum, auf der Rollschuhbahn, und hatten ihre Mutter anrufen wollen, damit sie sie abholte. Miles stand neben Hayden vor dem Münztelefon, während sein Bruder sprach.
    «Dad?» Und Miles konnte das flüchtige Licht übernatürlicher Hoffnung über Haydens Gesicht flackern sehen, bevor es wieder verlosch, ein Licht verblüffter Freude, das fast augenblicklich wieder verglomm, sobald ihm dämmerte, dass er sich getäuscht hatte. Ihr Vater war noch immer tot – noch toter, als er vorher gewesen war.
    Miles erahnte das alles, es zog wie ein telepathischer Strom durch sein Bewusstsein, und er erlebte Haydens Empfindungen so wie früher, als sie noch klein gewesen waren und er vor Schmerz aufschrie, wenn Hayden sich einen Finger in der Tür einklemmte, er über einen Witz lachte, noch ehe Hayden ihn erzählt hatte, er wusste, was für ein Gesicht Hayden gerade machte, auch wenn sie nicht im selben Zimmer waren.
    Aber jetzt war es nicht mehr so.
    Haydens Gesicht wurde auf einmal verkniffen – seine Augen bekamen ein böses Funkeln, als ob Miles’ Mitfühlen eine widerwärtige fummelnde Berührung wäre. Als ob Miles, nachdem er Zeuge von Haydens nacktem Eifer geworden war, jetzt bestraft werden müsste. «Halt die Schnauze, Schwachkopf», sagte Hayden, obwohl Miles keinen Ton gesagt hatte, und dann wandte er sich ab, nicht einmal bereit, Miles in die Augen zu sehen.
    Fest entschlossen, nie wieder glücklich zu sein.
     
    War es naiv zu glauben, bevor ihr Vater starb, seien sie alle durchaus zufrieden gewesen? Miles hatte darüber nachgedacht, während er die Interstate entlangfuhr, durch Illinois, Iowa, Nebraska, und Los Angeles noch immer Tausende von Kilometern entfernt war.
    Es war nett gewesen , dachte Miles. Oder?
    In ihrer Kindheit und frühen Jugend war Cleveland, zumindest in Miles’ Augen, noch recht idyllisch gewesen. Dort hatten sich ihre Eltern nicht lange nach der Hochzeit niedergelassen, im Osten der Stadt, in einem gemütlichen alten zweistöckigen Haus an einer von Silberahornen gesäumten Straße. Es war ein sympathisch heruntergekommenes bürgerliches Viertel, etwas nördlich von den Stadtvillen am Fairmount Boulevard, ein bisschen südlich von den Slums jenseits der Mayfield Road, und Miles erinnerte sich, damals gedacht zu haben, dass man es durchaus auch hätte schlechter treffen können. Im Lauf der Jahre hatten er und Hayden sowohl Freunde, die merklich ärmer, als auch solche, die merklich reicher als sie waren, und ihr Vater schärfte ihnen ein, sich Elternhaus und Angehörige ihrer Schulkameraden genau anzusehen. «Begreift, wie es ist, ein anderes Leben zu führen», sagte er. «Denkt gut darüber nach, Jungs.

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