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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Der Mensch wählt sein Leben; ich möchte, dass ihr euch das merkt. Und welches Leben werdet ihr für euch selbst wählen?»
    Es war klar, dass ihr Vater selbst häufig über diese Frage nachgedacht hatte. Er war Inhaber einer «Talent-Agentur», wie er das nannte, die allerdings, einschließlich sämtlicher Angestellten nur aus ihm selbst bestand. Manchmal trat er auf Kindergeburtstagen und festlichen Eröffnungen von Einkaufszentren als Lila Clown auf, machte Luftballontiere, jonglierte und schminkte Kinder und sang Lieder zum Mitsingen und so weiter. Manchmal war er der Erstaunliche Cheshire, ein Zauberkünstler. («Erstaunen Sie Ihre Kunden und Gäste mit ein bisschen Magie! Auf Fachmessen! Firmenfesten! Zu besonderen Anlässen!») Zu wieder anderen Gelegenheiten war er als Dr.   Larry Cheshire bekannt, Diplom-Hypnotiseur, Spezialist für Nikotinentwöhnung und Motivationscoach; oder als Lawrence Cheshire, Ph. D., Hypnotherapeut.
    Miles und Hayden hatten ihn nie in einer dieser Gestalten auftreten sehen, wohl stießen sie aber gelegentlich, hier und da im Haus, auf Fotos von ihm in seinen unterschiedlichen Kostümen und sogar auf Entwürfe von Werbematerial, an denen er gerade arbeitete: «Der Lila Clown und seine Handpuppenfreunde laden euch zu einer magischen Erzählstunde ein …», oder: «Die Cheshire-Hypnose-Workshops werden Ihnen helfen, die Kräfte Ihres Unterbewusstseins zu entdecken …»
    Gelegentlich hörten sie ihn telefonieren: Er saß dann am Küchentisch mit seinem großen schwarzen Terminkalender und verstummte zwischendurch immer wieder, um nachdenklich an seinem Bleistift zu kauen. Sie fanden es todkomisch, dass er, je nachdem, mit wem er sprach, jeweils eine andere Stimme benutzte. Eine ernste, jungenhaft trottelige, wenn er der Clown war; eine geschmeidige, aalglatte Managerstimme, wenn er Dr.   Larry Cheshire war; einen bühnengeschulten sonoren Bariton, wenn er für den Erstaunlichen Cheshire sprach; eine leicht emotionslose, beruhigend monotone Stimme, wenn er Lawrence Cheshire, Ph. D., war.
    Sie bekamen das alles mit, aber es schien in keinerlei Beziehung zu dem Mann zu stehen, den sie kannten. Er unterschied sich so grundlegend von den verschiedenen kostümierten und geschminkten Typen, die die Glatze, an die sie von zu Haus her bei ihm gewöhnt waren, unter Hüten und Toupets versteckten. Miles konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater sich ihnen gegenüber je auch nur entfernt «theatralisch» aufgeführt hätte, tatsächlich war er in seinem alltäglichen Leben eher ungewöhnlich still, ja gedämpft. Wie Miles vermutete, lag es einfach daran, dass er, wenn er nach Hause kam, genug davon hatte, sich vor Leuten zu produzieren.
    Trotzdem war er ein guter Vater. Aufmerksam auf seine besondere, beherrschte Art.
    Sie spielten miteinander Karten, Miles und Hayden und ihr Vater, Brettspiele, Computerspiele. Ein paarmal gingen sie zelten und machten Spaziergänge in der Natur. Als Kinder interessierten sich Miles und Hayden besonders für die Welt der Insekten, und ihr Vater half ihnen, welche zu finden, indem er große Steine und Holzstämme umdrehte. Die Tiere bestimmte er anhand seines Peterson-Naturführers, aus dem er laut rezitierte.
    Überhaupt las er gern vor. Goodnight Moon war das erste Buch, an das Miles sich erinnern konnte, Die Rückkehr des Königs das letzte, und mit ihm wurden sie erst eine knappe Woche vor dem Tod ihres Vaters fertig.
    Obwohl sie fast dreizehn waren, schliefen sie gern neben ihm, wenn er sein Nachmittagsnickerchen machte. Alle drei, Miles, Hayden und ihr Vater, lagen in Strümpfen auf dem Ehebett, Hayden auf der einen, Miles auf der anderen Seite des Vaters, die Hündin am Fußende des Bettes zusammengerollt, die Schnauze auf ihrem Schwanz. Ihre Mutter hatte Fotos von ihnen, wie sie alle so schliefen. Manchmal stand sie einfach nur in der Tür und sah sie an. Sie finde es schön, sagte sie, wie friedlich sie alle seien. Ihre Jungs. Sie hätte eine gute Mutter sein können, dachte Miles, wenn ihr Vater nicht gestorben wäre.
     
    Ihr Vater war dreiundfünfzig gewesen, als er starb. Es kam natürlich völlig unerwartet, obwohl er, wie sich herausstellte, extrem hohen Blutdruck gehabt und nicht sonderlich Rücksicht auf seinen Körper genommen hatte. Er hatte regelmäßig, wenn auch heimlich, geraucht, war übergewichtig und hatte nie auf seine Ernährung geachtet. «Albtraumhafte Cholesterinwerte», hatte ihre Mutter auf der Beerdigung den Leuten

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