Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
Zeit!» Mr.   Breeze tat einen leisen, kaum hörbaren Atemzug der Vorfreude.
    «Ich habe so selten Gelegenheit, mit Kindern zu arbeiten», sagte er.
    Dieser Mr.   Breeze musste sturzbetrunken gewesen sein, stellte sich Miles vor. Ebenso wahrscheinlich Tante Helen. Ebenso sämtliche übrigen Erwachsenen im Haus.
    Aber selbst im volltrunkenen Zustand hielt Mr.   Breeze Hayden allein mit seinen Pupillen wie einen aufgespießten Schmetterling fest. «Du möchtest doch hypnotisiert werden, oder, Hayden?»
    Haydens Lippen öffneten sich, und seine Zunge kribbelte in seinem Mund. «Ja», hörte Hayden sich selbst sagen.
    Mr.   Breezes Blick fügte sich in Hayden ein, wie ein Puzzleteilchen sich in ein anderes einfügt.
    «Ich möchte, dass du mir erzählst, wie es war, als du gestorben bist», sagte Mr.   Breeze. «Dieser Augenblick», sagte er. «Erzähl mir von diesem Augenblick.»
     
    Hayden erzählte, wie Mr.   Breeze ihn genommen und aufgeschlitzt hatte, so wie ein Angler den Bauch einer Forelle aufschlitzt. «Nicht meinen physischen Körper», erklärte Hayden. «Es war mein Geist, oder wie immer du es nennen willst. Meine Seele. Du weißt schon. Mein inneres Selbst.»
    «Was meinst du mit ‹aufgeschlitzt›?», sagte Miles etwas beklommen. «Das verstehe ich nicht.»
    «Nicht im sexuellen Sinn», sagte Hayden. «Du denkst immer gleich an Sex, Miles, du Perverser.»
    Miles entfernte den Hörer ein Stückchen vom Ohr, weil sich da eine unangenehme schweißige Stelle gebildet hatte. Es ging allmählich auf fünf Uhr früh.
    «Und?», sagte Miles.
    «Und so hat’s angefangen», sagte Hayden. «Mr.   Breeze sagte mir, ich hätte mehr vergangene Existenzen als jeder andere Mensch, mit dem er je zu tun gehabt hätte.»
    «Eine Ernte », hatte Mr.   Breeze zu Hayden gesagt. «Du trägst eine ungewöhnlich reiche Ernte in dir.» Die Existenzen seien im Inneren von Hayden dicht zusammengeballt, wie Rogen –
    «Fischeier», sagte Hayden. «Rogen bedeutet Fischeier.»
    «Ja, ich weiß», sagte Miles, und Hayden seufzte.
    «Aber was keinem klar ist, Miles», sagte Hayden, «wenn diese Dinge erst einmal geöffnet worden sind, kann man sie nicht wieder verschließen. Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu erklären. Wenn normale Leute mit den Erinnerungen leben müssten, mit denen ich hab leben müssen, würden sich viele von ihnen umbringen.»
    «Du meinst deine Albträume», sagte Miles.
    «Ja», sagte er. «So haben wir sie früher genannt. Jetzt weiß ich es besser.»
    «Wie zum Beispiel der Piratenkram», sagte Miles.
    « Piratenkram », sagte Hayden und schwieg dann vernichtend. «Das klingt bei dir so, als wäre es ein Abenteuerurlaub in Nimmerland gewesen.»
     
    Der sogenannte Piratenkram war einer der immer wiederkehrenden Albträume von Haydens Kindheit gewesen, aber sie hatten seit Jahren nicht mehr darüber gesprochen. Es stimmte, dass er davon immer schreiend aufgewacht war. Grauenvolle Schreie. Miles hatte sie noch heute in den Ohren.
    In dem Traum, von dem Hayden immer wieder erzählte, war er ein Junge auf einem Piratenschiff. Schiffsjunge, vermutete Miles. Hayden erinnerte sich an eine Tauwerksrolle, in die er sich zum Schlafen kuschelte. Während er dalag und sich zu entspannen versuchte, umgaben ihn das schwere Killen der Segel, das Knarren der Masten und der Geruch nach feuchtem Holz und Seepocken. Sobald er die Augen nur einen Spaltbreit öffnete, sah er die schmutzigen nackten Füße der Piraten, an denen immer entzündete offene Stellen waren. Dann machte er sich ganz klein in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, denn manchmal verpassten ihm die Piraten einen Tritt. Oder sie packten ihn am Rücken des Hemdes oder an den Haaren und zerrten ihn hoch.
    «Die wollen immer, dass ich sie küsse», erzählte Hayden seinem Bruder. Das war damals, als sie acht oder zehn waren, und er war wieder mal schreiend aufgewacht. «Dass ich sie auf den Mund küsse.» Er zog eine Grimasse: ihr Atem, ihre schmutzigen Zähne, der Dreck in ihren Bärten.
    «Krass», sagte Miles. Und er erinnerte sich, dass er schon damals gefunden hatte, Haydens Träume hätten etwas Widernatürliches an sich. Die Piraten küssten Hayden, und manchmal schnitten sie ihm eine Haarsträhne ab – «zur Erinnerung an deine Küsse, min Jung» –, und einer von ihnen schnitt ihm sogar ein Stück Ohrläppchen ab.
    Dieser bestimmte Pirat hieß Bill McGregor, und er war derjenige, vor dem sich Hayden am meisten fürchtete. Bill McGregor

Weitere Kostenlose Bücher