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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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waren, mit ihnen zum Vergnügungspark Cedar Point gefahren war. Sie hatte das Bild von Kayleighs Vater vor Augen, wie er auf dem Parkplatz gegen die Motorhaube seines Wagens gelehnt stand und eine Zigarette rauchte, während sie auf ihn zukamen, und sie erinnerte sich, wie ihr damals seine muskulösen Arme und der Blick, mit dem er sie fixiert hatte, aufgefallen waren und sie gedacht hatte: Glotzt er auf meine Titten?
    «Lucy, was machst du da?», fragte George Orson, und Lucy sah ihn aufmerksam an.
    Natürlich war der echte George Orson noch immer da, untendrunter, wenn er sich nur erst sauber machte.
    «Ich war gerade drauf und dran, mit deinem Auto wegzufahren und mich damit nach Mexiko abzusetzen», sagte Lucy.
    Und sein Gesicht entspannte sich wieder zu sich selbst, zu dem George Orson, den sie kannte, dem George Orson, der es liebte, wenn sie sarkastisch war.
    «Süße», sagte George Orson. «Ich bin nur mal eben rasch in die Stadt gefahren, das ist alles. Ich musste ein paar Vorräte kaufen, weil ich dir heute Abend was Leckeres kochen wollte.»
    «Ich mag’s nicht, sitzengelassen zu werden», sagte Lucy streng.
    «Du hast geschlafen», sagte George Orson. «Ich wollte dich nicht wecken.»
    Er strich sich mit der Hand über den Hinterkopf – ja, sein Haar wurde allmählich wirklich zottig –, und dann öffnete er die Tür des Maserati und glitt auf den Beifahrersitz.
    «Ich hab dir extra einen Zettel dagelassen», sagte er. «Auf dem Küchentisch. Anscheinend hast du ihn nicht gesehen.»
    «Nein», sagte sie. Sie schwiegen, und sie konnte nichts dagegen unternehmen, dass sich dieses langsame Gefühl der Leere in ihrer Brust auftat und ausbreitete, diese Weltuntergangs-Einsamkeit, und sie legte die Hände aufs Lenkrad, als ob sie irgendwohin fahren wollte.
    «Ich schätze es nicht, hier alleingelassen zu werden», sagte sie.
    Sie sahen sich an.
    «Es tut mir leid», sagte George Orson.
    Seine Hand legte sich behutsam auf ihre, und sie spürte den glatten Druck seiner Handfläche auf ihrem Handrücken, und schließlich war er möglicherweise der einzige verbleibende Mensch auf der Welt, der sie wirklich liebte.

9
    ZU DER ZEIT, bevor Hayden anfing zu glauben, sein Telefon werde abgehört – damals, als er und Miles Anfang zwanzig waren –, rief er noch relativ häufig an. Einmal im Monat, manchmal öfter.
    Das Telefon klingelte immer mitten in der Nacht. Um zwei. Um drei. «Ich bin’s», sagte Hayden dann, unnötigerweise, denn wer hätte es zu der Uhrzeit schon sonst sein können? «Gott sei Dank, dass du endlich abgenommen hast», sagte er dann. «Miles, du musst mir helfen, ich kann nicht schlafen.»
    Manchmal war er ganz aufgeregt wegen irgendeines Artikels, den er gerade gelesen hatte, über paranormale Phänomene oder Reinkarnation, frühere Existenzen, Spiritismus. Das Übliche.
    Manchmal fing er auch an, wirres Zeug über ihre Kindheit zu reden, erzählte Geschichten über Ereignisse, an die sich Miles beim besten Willen nicht erinnern konnte – und die sich Hayden mit ziemlicher Sicherheit ausgedacht hatte.
    Aber mit ihm war nicht zu reden. Wenn Miles Vorbehalte oder Zweifel äußerte, konnte sich Hayden sehr leicht angegriffen fühlen und aggressiv werden, und wer wusste dann schon, was passieren würde? Das einzige Mal, wo sie in eine hitzige Auseinandersetzung über seine «Erinnerungen» geraten waren, hatte Hayden den Hörer auf die Gabel geknallt und sich über zwei Monate lang nicht wieder gemeldet. Miles war ganz krank vor Sorge gewesen. Damals glaubte er noch, es sei nur eine Frage der Zeit, bis er Hayden aufspüren würde, bis es ihm gelingen würde, Hayden einzufangen – oder dazu zu bewegen, freiwillig nach Hause zurückzukehren. Er malte sich einen beruhigten, vielleicht auch ruhiggestellten Hayden aus, mit dem er eine kleine Wohnung teilen würde, friedliche Abende, an denen sie, wenn er, Miles, von der Arbeit heimgekehrt war, zusammen Videospiele spielen würden. Und dann gemeinsam ein Geschäft aufzogen. Er wusste, dass es eine lachhafte Vorstellung war.
    Trotzdem war Miles, als Hayden sich endlich wieder meldete, sehr auf Versöhnung bedacht gewesen. Er war so erleichtert, dass er sich vornahm, nie wieder mit ihm eine Diskussion anzufangen, egal, was sein Bruder ihm erzählen mochte.
    Es war vier Uhr früh, und Miles saß aufrecht im Bett, den Hörer fest ans Ohr gedrückt, und sein Herz klopfte wie verrückt. «Sag mir, wo du bist, Hayden», sagte er. «Und bleib da

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