Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
Vom Netzwerk:
Ammenmärchen.
    Die hypnotisierten Freiwilligen hatten angefangen, sich zu rühren, die Augen zu öffnen und zu gucken.
    Aufwachen! Aufwachen!, rief Miles’ und Haydens Vater am Morgen immer, als sie noch klein waren. Aufwachen, meine kleinen Schlafmützen , flüsterte er dann und berührte mit seinen weichen Fingerspitzen leicht ihre Ohren.
     
    In Wahrheit war keiner von ihnen – Miles oder Hayden, oder ihre Mutter – tatsächlich Zeuge dieses Ereignisses gewesen, aber in Miles’ Vorstellung war es immer so, als habe er es tatsächlich mit angesehen. Als sei es auf Film aufgezeichnet worden, einem dieser körnigen Unterrichtsfilme mit blechernem Ton, die die Lehrer der Roxboro Middle School gern an regnerischen Tagen hervorkramten. Martin Luther King. Der Fortpflanzungsapparat. Die ägyptischen Mumien .
    Einige Zeit später hatte Miles zufällig diese Szene vom Tod ihres Vaters erwähnt, und seine Mutter hatte ihn aufmerksam angesehen.
    «Miles, wovon in aller Welt redest du da?», fragte sie. Sie saß am Küchentisch, völlig reglos, aber ihre Zigarette zitterte zwischen ihren Fingern. « Das hat Hayden dir erzählt?», sagte sie, und sie betrachtete ihn besorgt. Ihre Meinung über Hayden begann sich damals zu verfestigen.
    «Dein Vater ist in seinem Hotelzimmer gestorben, Schätzchen», sagte sie. «Ein Zimmermädchen hat ihn gefunden. Er wohnte in einem Holiday Inn. Außerdem war es in Minneapolis, nicht Indianapolis, wenn du es genau wissen willst, und er nahm da an der Tagung der National Guild of Hypnotists teil. Er hatte gar keinen Auftritt.»
    Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee, hob dann abrupt den Kopf, als Hayden in Boxershorts und T-Shirt in die Küche kam – gerade erst aufgewacht, obwohl es schon zwei Uhr nachmittags war.
    «Tja», sagte sie. «Wenn man vom Teufel spricht.»
     
    Schon damals hatte Miles angefangen zu begreifen, dass viele seiner Erinnerungen einfach Geschichten waren, die Hayden ihm erzählt hatte – Suggestionen, die ihm eingepflanzt worden waren und um die herum sein Gehirn begonnen hatte, «Setting», «Details» und «Handlung» zu konstruieren. Selbst noch Jahre später erinnerte sich Miles in aller Deutlichkeit an die letzten Sekunden seines Vaters, so wie Hayden sie geschildert hatte.
    Rückblickend kam es Miles so vor, als habe er zwei verschiedene Leben geführt – eines, das ihm Hayden erzählt hatte, das andere sein eigenes Leben, das Leben eines mehr oder weniger normalen Teenagers. Und während Hayden sich immer tiefer in die Welt früherer Existenzen versenkte, die Mr.   Breeze ihm eröffnet hatte, und Hayden zunehmend isolierter wurde, arbeitete Miles am Highschool-Jahrbuch mit und spielte Lacrosse in der Junior-Auswahlmannschaft der Hawken School, an der Marc Spady Zulassungskoordinator war. Während Hayden in die Therapie ging und die ganze Nacht wach blieb, sammelte Miles in der Schule friedlich seine Zweien und Dreien und fuhr mit Marc Spady raus auf einen Parkplatz, um für die Führerscheinprüfung zu üben, setzte zwischen orangefarbenen Pylonen zurück, während Spady ein paar Meter vom Auto entfernt stand und «Vorsichtig, Miles! Vorsichtig» rief.
     
    Haydens Leben entwickelte sich unterdessen in eine andere Richtung. Seine Albträume waren immer intensiver geworden – Piraten, blutige Bürgerkriegsschlachten und dieser brennende Schuppen, in dem Bobby Berman mit Streichhölzern gespielt und das Feuer ihm den Sauerstoff aus den Lungen gesogen hatte –, und das bedeutete, dass Hayden selten zum Schlafen kam. Ihre Mutter richtete ihm auf dem Dachboden ein neues Schlafzimmer ein und dazu ein besonderes Bett mit Stoffgurten für Hand- und Fußgelenke, die ihn daran hindern sollten, schlafzuwandeln oder sich im Schlaf zu verletzen. Eines Nachts hatte er mit beiden Handballen das Küchenfenster eingeschlagen, überall Blut. Ein anderes Mal waren ihre Mutter und Marc Spady aufgewacht, als er mit einem erhobenen Hammer schwankend am Bett gestanden und vor sich hin gemurmelt hatte.
    Und so geschah es nur zu seiner eigenen und zu ihrer aller Sicherheit, es war keine Strafe, aber dennoch war Miles überrascht gewesen, wie bereitwillig Hayden dieses neue Arrangement akzeptiert hatte. «Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Miles», hatte Hayden gesagt, obwohl Miles nicht ganz klar war, worüber er sich hätte Sorgen machen sollen: Immerhin hatte Hayden in seinem neuen Zimmer Videospiele und Kabelfernsehen, und Miles war sogar ein bisschen neidisch gewesen.

Weitere Kostenlose Bücher