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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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zugemurmelt, und Miles hatte gespürt, dass sie sich durch das Dickicht von Bedauern und versäumten möglichen Präventivmaßnahmen kämpfte, von alternativen Zukünften, die mittlerweile obsolet geworden waren, aber dennoch ihr Denken weiterhin beschäftigten. «Ich habe ihm gesagt, dass ich mir Sorgen mache», sagte sie den Leuten ernsthaft, eindringlich, als erwartete sie von ihnen, dass sie ihr die Schuld geben würden. «Ich habe mit ihm darüber gesprochen.»
    In den darauffolgenden Wochen dachte Miles viel darüber nach. Über seinen Tod. Hatten sie ihren Vater im Stich gelassen, waren sie gedankenlos gewesen, hätten sie sich anders verhalten und dadurch den Gang der Ereignisse ändern können? Er schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie sich ein «massiver Herzinfarkt» anfühlen mochte. War man einfach plötzlich weg, fragte er sich, leerte sich das Bewusstsein, wie wenn Wasser aus einer Tasse ausgeschüttet wird?
    Er versuchte sich auszumalen, wie es hätte sein können, versuchte, sich seinen Vater vorzustellen, wie er vor dem Publikum stand, als er die ersten, noch leichten Symptome verspürte. Ein Stechen im linken Arm vielleicht. Eine Verengung der Brust. Sodbrennen , dachte er wahrscheinlich. Erschöpfung . Miles stellte sich vor, dass sein Vater die Hände auf sein Toupet legte, es sich mit beiden Handflächen fest an den Kopf drückte.
    Miles ging davon aus, er wüsste in groben Zügen, was passiert war. Er erinnerte sich, in der Nacht, in der ihr Vater gestorben war, mit Hayden darüber gesprochen zu haben.
    Ihr Vater war zu einem Wochenend-Event in Indianapolis gewesen und während einer seiner Hypnose-Shows gestorben.
    Das hätte eine hübsche Zeitungsnotiz abgeben können, sagte Hayden. Eine dieser scherzhaften, bissig-ironischen Human-Interest -Meldungen, die man in News of the Weird las.
    Die Vorstellung fand in einem Konferenzraum in einem Bürokomplex am Stadtrand statt; es war eine «Teambildungs»-Übung für die Mitarbeiter der Firma, wahrscheinlich so eine glänzende Idee, die irgendein Manager im Personalcontrolling ausgeheckt hatte. Klasse!, dachten die anderen. Ihr Vater hatte sie wahrscheinlich mit seinen Werbesprüchen à la «den Menschen helfen, die Kräfte ihres Unterbewusstseins zu entdecken» überzeugt. Er nahm sich Freiwillige aus der Gruppe, Leute, die sich mutig dazu bereit erklärten, sich hypnotisieren zu lassen, holte sie nach vorn und forderte sie auf, sich auf Klappstühle zu setzen, während ihre Kollegen zuschauten und begierig darauf warteten, dass ihr Vater die Freiwilligen einen nach dem anderen in Trance versetzte.
    Alle waren begeistert. Was für ein Spaß! Die Zuschauer kicherten, als sie ihre Kollegen in einem wirklichen Zustand der Hypnose sahen, zutiefst entspannt, wehrlos ausgeliefert, da auf den Stühlen, vor aller Augen.
    Während er sprach, schwitzte ihr Vater leicht. Er legte sich die flache Hand an die Stirn, dann auf den Nacken.
    «Meine Damen und Herren», sagte er und schluckte gegen die Trockenheit in seiner Kehle an.
    «Meine Damen und –»
    «Meine Damen und Herren.»
    Und dann verstummten sie alle, als er einen Finger hob – einen Moment bitte , bedeutete die Geste. Er setzte sich auf einen Klappstuhl neben die hypnotisierten Freiwilligen. Das Publikum schmunzelte. Der letzte Typ in der Freiwilligenreihe war ein lockenköpfiger Computernerd, dem die Kinnlade runterhing, und über den amüsierten sie sich ganz besonders, wie er da in tiefster Trance hockte.
    Sie warteten, neugierig, was jetzt kommen würde. Ihr Vater legte sich die Hand ans Kinn und schien nachzudenken. Er kniff die Augen zusammen, nahm eine Haltung feierlicher Kontemplation ein.
    Weiteres Schmunzeln.
    Wahrscheinlich starb er da gerade.
    Aufrecht auf einem Klappstuhl – sein Körper zentriert, im Gleichgewicht, und sein Publikum wartete noch immer.
    Noch ein bisschen Schmunzeln hier und da, aber größtenteils gespannte Stille. Atemlose.
    Der Körper ihres Vaters sackte leicht in sich zusammen. Neigte sich dann. Fiel dann – endlich – vornüber, der Metallstuhl klappte mit einem Knall zusammen und auf den hallenden Fliesenboden.
    Eine Dame stieß einen überraschten Schrei aus, aber trotzdem blieb das Publikum sitzen, unsicher, zweifelnd. Gehörte das zum Act? Gehörte das zur Teambildung?
    Und inzwischen waren die Leute, die hypnotisiert worden waren, nicht mehr hypnotisiert. Es war schließlich nicht möglich, ewig in Trance zu bleiben. Das ist nur ein

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