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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Er erinnerte sich an Abende, an denen sie in Haydens Dachzimmer nebeneinander im Bett lagen und auf dem alten Nintendo Super Mario spielten, die Controller in den Händen und die Augen unverwandt auf den Minifernseher gerichtet, der auf Haydens Kommode stand. «Keine Sorge, Miles», sagte Hayden. «Ich hab alles im Griff.»
    «Das ist gut», sagte Miles.
    Hayden war schon durch die Hände einer «ganzen Batterie» von Psychologen und Therapeuten gegangen, wie ihre Mutter es ausdrückte. Verschiedene Medikamente. Olanzapin, Haloperidol. Aber das spiele keine Rolle, sagte Hayden.
    «Es ist ja nicht so, dass ich jedem die Wahrheit sagen könnte», sagte Hayden, und die MIDI-Musik von Super Mario plätscherte dahin. «Du bist der Einzige, mit dem ich reden kann, Miles», sagte er.
    «M-hm», sagte Miles, dessen Aufmerksamkeit größtenteils der Wegstrecke galt, die sein Mario über den Bildschirm zurücklegte. Sie saßen da nebeneinander unter der Decke, und Hayden rutschte herüber und drückte seine eisigen Füße gegen Miles’ Bein. Haydens Hände und Füße waren immer bleich und kalt, schlecht durchblutet, und er steckte sie immer unter Miles’ Sachen.
    «Lass das!», sagte Miles, als ihn auf dem Bildschirm gerade ein Pilzmonster tötete. «O Mann! Jetzt guck dir an, was ich wegen dir gemacht habe!»
    Aber Hayden starrte ihn nur an. «Pass auf, Miles», sagte er, und Miles sah, wie auf dem Fernsehbildschirm die Mitteilung GAME OVER erschien.
    «Was?», sagte Miles, und ihre Blicke blieben aneinander hängen. Dieser bedeutungsinnige Blick, dachte Miles, als ob er Bescheid wissen müsste.
    «Ich hab denen von Marc Spady erzählt», sagte Hayden und atmete leise aus. «Ich hab denen gesagt, wer Spady war und was er uns angetan hat.»
    «Wovon redest du eigentlich?», sagte Miles, und dann schaute Hayden unvermittelt auf. Ihre Mutter stand in der Tür. Es war für die Jungen Schlafenszeit, und sie war gekommen, um Hayden festzuzurren.
     
    Miles war endlich in Kalifornien angekommen. Es war das erste Mal seit einer ganzen Weile, dass er Haydens Aufenthaltsort kannte. Über vier Jahre waren seit dem letzten Mal vergangen. Miles wusste nicht einmal, wie Hayden aussah, obwohl er, da sie doch Zwillinge waren, natürlich annahm, dass sie sich noch immer ziemlich ähnlich waren.
    Es war Ende Juni, direkt nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Ihre Mutter und Marc Spady waren inzwischen tot, und seit er das Collegestudium geschmissen hatte, hangelte sich Miles von Job zu Job. Er erreichte das Ende der I-70, mitten in Utah, und nahm dann die I-15 nach Süden, Richtung Las Vegas.
    Als er endlich die Stadtgrenze von Los Angeles passierte, war es Morgen.
    In der Nähe von Chinatown fand er ein Super-8-Motel, und er verschlief den ganzen Tag auf seinem dünnmatratzigen Bett, während die fest zugezogenen Vorhänge den kalifornischen Sonnenschein aussperrten und der Minikühlschrank vor sich hin summte. Als er aufwachte, war es schon dunkel, und er tastete auf dem Nachttisch herum und fand seine Autoschlüssel und den Wecker und zu guter Letzt auch das Handy.
    «Hallo?», sagte Hayden. Es war kaum zu glauben, dass er nur ein paar Kilometer entfernt war. Miles hatte schon in den Stadtplan eingezeichnet, wie er in das Viertel kommen würde, in dem sein Bruder wohnte – am Elysian Park vorbei in Richtung Silver Lake Reservoir.
    «Hallo?», sagte Hayden. «Miles?» Und Miles überlegte.
    «Ja», sagte er. «Ich bin’s.»

10
    EIN EINDRINGLING gelangt in deinen Computer und beginnt, die kleinen Diatomeen deiner Identität einzusammeln.
    Deinen Namen, deine Adresse und so weiter; die verschiedenen Websites, die du bei deinen Streifzügen durch das Internet besuchst, deine Benutzernamen und Passwörter, dein Geburtsdatum, den Mädchennamen deiner Mutter, deine Lieblingsfarbe, die Blogs und Newsgroups, die du liest, die Dinge, die du einkaufst, die Kreditkartendaten, die du zu dem Zweck angibst –
     
    Was natürlich nicht unbedingt du bist. Du bist nach wie vor ein menschliches Individuum mit einer Seele und einer Lebensgeschichte, Freunden und Verwandten und Arbeitskollegen, denen du etwas bedeutest, die für dich bürgen können: Sie erkennen dein Gesicht, deine Stimme und deine Persönlichkeit, und du erlebst dein Leben als einen durchgehenden Handlungsstrang, eine verlässliche, sich immer weiter entfaltende Geschichte deiner selbst, die du dir selbst erzählst, du wachst auf und bist so weit ganz zufrieden – zufrieden auf

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