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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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fächerförmig angeordnete Alphabet und die Sonne und den Mond in den Ecken –, als könnte dort eine Botschaft auf ihn warten.
    «Das ist irgendwie eins von den Dingen, die sich praktisch jeder mal vorstellt, nicht? Wie wär’s, wenn du eines Morgens aufwachst und die Leute glauben, du bist tot? Ein klassisches Szenario, nicht? Was würdest du tun, wenn du dein altes Ich vollständig hinter dir lassen könntest? Das ist eins der großen Mysterien des Erwachsenseins. Für die meisten Menschen.»
    «Mm», sagte Ryan und blickte kurz auf den Computerausdruck, den Jay ihm gegeben hatte. Die Todesmeldung. Er faltete das Blatt einmal zusammen, wusste dann nicht recht, was er damit tun sollte, und stopfte es sich in die Tasche.
    «Ist nicht so einfach zu bewerkstelligen, weißt du», redete Jay weiter. «Genau genommen ist es ziemlich schwierig, sich amtlich für tot erklären zu lassen.»
    «M-hm», sagte Ryan, und Jay schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf.
    «Glaub mir, mein Sohn», sagte Jay. «Ich hab mich mit der Materie befasst, und es ist nicht einfach. Besonders heutzutage nicht, mit DNA-Tests und Zahnstatusvergleichen und dem ganzen Kram. Ehrlich gesagt, ist das schon ein ziemliches Kunststück. Und dir ist es einfach in den Schoß gefallen. Wie ein reifer Apfel.»
    «Hm», sagte Ryan, aber er wusste nicht recht, was er sagen sollte. Jay saß da, zurückgelehnt, in Trainingsanzug und gefütterten Slip-Ons, und starrte erwartungsvoll zu ihm auf.
    Das war ziemlich viel zum Verarbeiten.
     
    Ihm war nicht ganz klar, wie die so was behaupten konnten, ohne eine Leiche zu haben. Aber nach dem, was in der Zeitungsnotiz stand, hatte sich anscheinend ein Zeuge gemeldet, der behauptete, ihn auf den Felsen am Ufer des Sees gesehen zu haben, direkt hinter dem Studentencenter. Angeblich hat er gesehen, wie er in den See sprang: Ein junger Mann, der ungefähr seiner Personenbeschreibung entsprach, hatte auf den großen, mit Graffiti übersäten Steinklötzen gestanden, die das Ufer säumten, und war dann plötzlich gesprungen –
    Was hochgradig unwahrscheinlich klang, dachte Ryan, und leicht zu entkräften gewesen wäre. Aber offensichtlich hatte die Polizei entschieden, so sei es gewesen; wahrscheinlich hatte sie es eilig, die Akte zu schließen und sich wichtigeren Fällen zuzuwenden.
    Und so waren seine Eltern jetzt vermutlich auf dem Weg nach Evanston zum «Gedenkgottesdienst», und er nahm an, dass ein paar von seinen Freunden aus der Highschool vielleicht auch kommen würden. Wahrscheinlich etliche aus seinem Wohnheim – Walcott natürlich, und ein paar von den anderen von seiner Etage, mit denen er rumgezogen war, möglicherweise ein paar Bekanntschaften vom ersten College-Jahr, die er seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. Ein paar Dozenten. Ein paar Typen aus der Verwaltung, Dekane oder Vizedekane oder was auch immer, Funktionäre, zu deren Job es eben gehörte, sich blicken zu lassen und ein betroffenes Gesicht zu machen.
    Unnötig zu sagen, dass Jay – «Onkel Jay» – nicht zur Trauergemeinde gehören würde.
    «Ehrlich, ich bin froh, dass deine Mutter keine Ahnung hat, wie sie mich erreichen kann», sagte Jay. «Wie die Dinge liegen, würde sie sich wahrscheinlich genötigt fühlen, mich anzurufen. Sie würde nach all den Jahren endlich Frieden schließen wollen und mich wahrscheinlich sogar bitten, zur Trauerfeier zu kommen. Jesus! Kannst du dir das vorstellen? Ich hab sie zuletzt kurz nach deiner Geburt gesehen, Mann. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was die für ein Gesicht machen würde, wenn ich nach all den Jahren aufkreuzen würde. Das kann sie im Augenblick wirklich nicht brauchen, bei allem, was sie momentan durchmacht.»
    «Stimmt», sagte Ryan.
    Er selbst bemühte sich, sich nicht vorzustellen, was für ein Gesicht seine Mutter im Augenblick machte.
    Er bemühte sich, sich die Mienen seiner Eltern nicht auszumalen, wenn sie endlich in Chicago ankämen und im Hotel eincheckten und in ihrem Zimmer ihre düsteren Sachen für die Gedenkfeier anzogen. Er komprimierte dieses Bild und stopfte es ganz tief in sein Unterbewusstsein.
    «Mensch», sagte Jay. «Warum setzt du dich nicht, Mann? Ich mach mir Sorgen um dich.»
    Sie waren auf der Veranda von Jays Hütte, und der gusseiserne Holzofen schickte Wellen von schläfriger Wärme nach draußen. Jay saß auf der alten Verandacouch und strich sich die Haare aus den Augen. Dann warf er Ryan einen vorsichtig mitfühlenden Blick zu – die

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