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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Sorte Blick, mit der man Leute bedenkt, die einem gerade eine komplizierte oder tragische Sache erzählt haben. Aber es war kein Blick, den Ryan jetzt brauchen konnte.
    «Du bist mitgenommen», sagte Jay. «Du versuchst, es dir nicht anmerken zu lassen, aber ich seh’s dir an.»
    «Hm», sagte Ryan. Und er dachte nach. Mitgenommen?
    «Nicht direkt», sagte Ryan. «Es ist nur – nicht leicht auf die Reihe zu kriegen.»
    «Klar», sagte Jay, und als Ryan sich endlich neben ihn setzte, legte er ihm den Arm um die Schultern. Sein Griff war überraschend heftig, und er zog Ryan fest an sich, umklammerte ihn wie ein Ringer seinen Gegner, sodass er die Arme nicht bewegen konnte. Anfangs war es unangenehm, aber in der Schwere und Kraft seines Arms lag auch etwas Tröstliches. Es wäre gut gewesen, als Kind einen solchen Dad gehabt zu haben, dachte Ryan, und er lehnte versuchsweise den Kopf an Jays Schulter. Nur für einen Moment. Er zitterte ein bisschen, und Jay drückte fester zu.
    «Keine Frage, es wird eine Weile dauern, bis du’s richtig in den Kopf kriegst», sagte Jay sanft. «Das ist ein ziemlicher Hammer, nicht?»
    «Kann man sagen», sagte Ryan.
    «Ich meine», sagte Jay, «schau. Du musst dir klarmachen, auf psychischer Ebene ist das ein Verlust. Das ist ein Tod. Und das kannst du dir jetzt vielleicht nicht vorstellen, aber du wirst es wahrscheinlich so – na, verarbeiten müssen, als wär es ein richtiger Todesfall. Wie mit diesen Sterbephasen bei der Kübler-Ross. Nicht-wahrhaben-Wollen, Zorn, Verhandeln, Depression … Du musst durch eine Menge Gefühle durch.»
    «Ja», sagte Ryan.
    Er hätte nicht genau sagen können, welches Gefühl er gerade durchmachte. Welche Phase. Er sah bloß, wie Jay ein Bier aus der Styropor-Kühlbox holte, die vor ihnen auf dem Boden stand, und sie ihm reichte. Er riss sie auf und kippte sich, während Jay ihn beobachtete, die Flüssigkeit in den Mund.
    «Aber du flippst nicht aus oder so», sagte Jay, nachdem sie eine Zeitlang so dagesessen hatten. «Du bist okay, ja?»
    «Ja», sagte Ryan.
    Ryan saß da und starrte auf das alte Ouija-Brett. Die Buchstaben des Alphabets bildeten darauf einen weit geschwungenen Bogen wie die Tasten einer altmodischen Schreibmaschine. Lächelnde Sonne in der linken Ecke. Stirnrunzelnder Mond in der rechten. In den unteren Ecken waren Wolken, und das war ihm bislang nicht aufgefallen, aber in den Wolken waren Gesichter. Merkmallose, unbestimmte Gesichter, die aber, wie er vermutete, langsam aus irgendeinem Jenseits auftauchten. Bescheiden, am Rande, darauf wartend, dass jemand sie heraufbeschwor.
    «Du weißt, dass ich für dich da bin», sagte Jay. «Ich bin schließlich dein Vater. Falls du mal reden möchtest.»
    «Ich weiß», sagte Ryan.
     
    Sie tranken noch ein paar Bier, und dann ließen sie eine Bong hin- und hergehen, und nach einer Weile begann Ryan zu spüren, wie sich der Gedanke allmählich in ihm setzte. Er war tot. Er hatte sein altes Ich hinter sich gelassen. Er schloss die Lippen um das Saugrohr der Bong, während Jay den Inhalt des Pfeifenkopfs in Brand setzte. Die Erkenntnis entfaltete sich in Zeitlupe, wie in diesen Naturfilmen, in denen Sämlinge aus der Erde drangen und ihre zierlichen Stiele entrollten und ihre Blätter entfalteten und ihre Köpfe in langsamen Kreisen wiegten, während die Sonne über den Himmel jagte.
    Jay redete unterdessen weiter, mit einer friedlichen, beruhigenden Plauderstimme. Er war ein Mann mit vielen Geschichten, und Ryan saß da und hörte zu, wie sich Jay in Erinnerungen erging.
    Anscheinend hatte Jay einmal versucht, seinen eigenen Tod vorzutäuschen.
    Das war lange her, zu der Zeit, als Jay jung war und in Iowa lebte, noch bevor er das Mädchen kennenlernte, das er mit Ryan schwängern würde.
    Es war der Sommer nach der zehnten Klasse, und er hatte sich die Sache lange und genau überlegt. Man würde seine Kleider und Schuhe am Ufer des Flusses finden, und er würde dafür sorgen, dass vorher jemand hörte, wie er um Hilfe rief. Er würde sich bis nach Einbruch der Dunkelheit versteckt halten, und dann würde er, heimlich, in Richtung Süden wandern, bis er weit genug aus der Stadt raus wäre. Er würde sich an Trucker-Raststätten hinstellen und bis nach Florida trampen, und dann würde er sich auf einem Schiff, das nach Südamerika fuhr, als blinder Passagier bis zu irgendeiner Stadt an der Küste, in der Nähe des Regenwaldes oder der Anden, durchschlagen, wo er als Trickbetrüger

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