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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Touristen ausnehmen würde.
    «Das klingt eigentlich ganz schön schwachsinnig, so im Nachhinein betrachtet», sagte Jay. «Aber damals kam mir das wie ein ziemlich guter Plan vor.»
    Jay schmunzelte, den Arm noch immer locker um Rays Schultern geschlungen. Er neigte den Kopf liebevoll zu ihm, und Ryan spürte seinen rauchigen Atem, der mit dunklem Heugeruch über seinen Hals strich.
    «Ich weiß nicht», sagte Jay. «Ich schätze, ich war damals ziemlich verzweifelt – ich hatte einigen Stress auf der Schule. Ich war ein ziemlich schlechter Schüler. Nicht so wie Stacey. Mir hing einfach alles zum Hals raus, und ich hatte das Gefühl, dass ich alle enttäuschte, mein Leben kotzte mich an … Meine Eltern hoben Stacey immer in den Himmel. Als wäre sie das Vorbild schlechthin, weißt du? Ich versuch nicht, ihre Leistungen runterzumachen oder so, aber es war echt kein Vergnügen. Meine Eltern haben sie förmlich auf ein Podest gestellt, als wär sie so was wie eine Göttin. Stacey Kozelek! Stacey Kozelek kriegte immer nur lauter Einsen. Sie war so fleißig. Sie hatte einen Lebensplan ! Und von mir wurde erwartet, dass ich sie – Wow! – anhimmele. Wahnsinnig eindrucksvoll.»
    Er zuckte widerwillig die Schultern. «Nichts gegen deine Mom. Es war nicht ihre Schuld, weißt du, sie hat hart gearbeitet. Schön für sie, nicht? Aber was mich angeht, das war nicht das, was ich wollte. Ich wollte nie einen Punkt im Leben erreichen, wo klar wäre, was ab dann passieren würde, aber ich hatte das Gefühl, dass die meisten Leute es einfach nicht erwarten konnten, sich in eine Routine einzuklinken und nicht mehr über den nächsten Tag oder das nächste Jahr, oder das nächste Jahrzehnt nachdenken zu müssen, weil alles für sie geregelt und festgelegt war.
    Ich begreif einfach nicht, wie man sich damit zufriedengeben kann, lediglich ein Leben zu haben. Ich weiß noch, wie wir einmal in Englisch über dieses Gedicht geredet haben, von diesem Typ. Robert Frost. ‹In einem gelben Wald, da lief die Straße auseinander› – Du kennst das Gedicht, oder? ‹In einem gelben Wald, da lief die Straße auseinander, und ich, betrübt, dass ich, ein Wandrer bleibend, nicht die beiden Wege gehen konnte, stand und sah dem einen nach, so weit es ging: bis dorthin, wo er sich im Unterholz verlor.› Mir gefiel das Gedicht. Aber ich weiß noch, wie ich dachte: Warum? Wieso kann man nicht beide gehen? Das kam mir ziemlich unfair vor.»
    Er verstummte und zog an seiner Zigarette, und Ryan, der verträumt zugehört hatte, wartete. Draußen schneite es, und er spürte, wie sein Herz ein beschwichtigendes Geräusch in seinen Ohren machte.
    «Ich bin allerdings nicht sehr weit gekommen», sagte Jay. «Die Bullen haben mich kurz nach Mitternacht aufgelesen, wie ich den Highway langging, nach der Sperrstunde, und als ich heimkam, warteten meine Eltern auf mich. Stinkig wie Sau – aber keiner hatte geglaubt, ich wäre tot. Die haben nicht mal meine Klamotten gefunden, die ich am Ufer des Flusses hatte liegenlassen. Am nächsten Tag bin ich hin, und da lag noch alles, meine Schuhe und mein Hemd und meine Hose, alles da.»
     
    Während er Jay zuhörte, lehnte sich Ryan in die alte Couch zurück und schloss die Augen.
    Ja, es war eine Erleichterung. Es war tatsächlich eine Erleichterung, tot zu sein, erheblich besser, als Selbstmord zu begehen – eine Möglichkeit, die er sich in den Monaten bevor Jay ihn anrief, ernsthaft überlegt hatte. Er hatte das ganze Semester lang gewusst, dass er aus dem College rausfliegen würden. «Akademische Suspendierung» würden sie das nennen, und ungefähr um die Zeit würden seine Eltern auch erfahren, dass er das Geld von seinen Studentendarlehen verplempert hatte, statt damit die Collegegebühren zu bezahlen. Den ganzen Herbst lang hatte er gespürt, wie die unausweichliche Offenbarung immer näher und näher rückte, nur noch ein paar Monate oder Wochen entfernt dräute – die vielfältigen Demütigungen und die Sitzungen in den Büros verschiedener Verwaltungsmenschen, und als krönender Abschluss die Überraschung und Enttäuschung seiner Eltern, wenn sie erführen, wie gründlich er alles vergeigt hatte.
    Eines Nachts hatte er in seinem Wohnheimzimmer in eine Internet-Suchmaschine «schmerzloser Selbstmord» eingetippt und die Seite einer «Gesellschaft für Beihilfe zur Selbsttötung» gefunden, die den Suizid durch Einatmung von Helium mit Hilfe einer Plastiktüte empfahl.
    Am meisten machte ihm der

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