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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Mitte des Sees, und du musst dir vorstellen, dass er zu der Zeit ganz schön tief war. Zwölf, dreizehn Faden?»
    Er befand sich in einer Art Traumzustand, und als er den Finger hob und nach oben zeigte, folgte sie ihm mit den Augen. «Stell dir das mal vor!», sagte er. «An die zwanzig, fünfundzwanzig Meter über uns wäre das Boot, und du könntest sehen, wie er und ich ins Wasser springen. Du wärst hier unten, wie ein Haifisch, und würdest die strampelnden Beine beobachten und die Wasseroberfläche da oben sehen –»
    Ja. Sie konnte es sehen. Sie konnte sich vorstellen, auf dem Grund des Sees zu sein – über ihnen beiden die Wassermembran wie die Fläche eines Himmels und der gekräuselte Schatten des Kahns, und die Silhouetten der Jungen im diffusen blaugrünen Licht, wie Vögel, die durch die Luft strichen.
     
    Sie erschauderte, und die Vision von Wasser und Kindheitsnostalgie verblasste.
    Der fahle Staub jagte in waagerechten Strömen dicht über dem Boden, schlängelte sich in schmalen, sich kräuselnden Bahnen, die die Sträucher-Inseln wie Dämme miteinander verbanden. Alles um sie herum war durch Staub und Glast jeglicher Farbe beraubt, wie ein Fernsehbild, bei dem man Helligkeit und Kontrast zu weit aufgedreht hatte.
    Ihre eigene Kindheit hatte nichts Derartiges zu bieten gehabt, keine idyllischen Ferien am Strand, keine Kähne oder geheimnisvollen Unterwasserstädte. Sie konnte sich lediglich an Sommertage im Schwimmbad von Pompey erinnern oder auf dem Rasen hinterm Haus, wo sie zusammen mit Patricia durch den Strahl des Sprengers gelaufen war – Patricia, ein molliges kleines Mädchen in einem einteiligen Badeanzug, das den Mund offen hielt, um den Wasserstrahl aufzufangen.
    Die arme Patricia , dachte sie.
    Die arme Patricia, die immer das Geschirr spülte und die Wäsche wusch und dabei gramvoll Lucy anschaute, die auf der Couch saß und Fernsehen guckte. Als sei sie zu fein, um ihren eigenen Dreck zu beseitigen. Vielleicht, dachte Lucy, war es für sie beide besser, dass sie sich abgesetzt hatte. Vielleicht war Patricia jetzt glücklicher.
    «Und?», sagte Lucy. «Wo ist dein Bruder jetzt? Telefoniert ihr manchmal, oder seht ihr euch oder so?»
    George Orson blinzelte. Sie vermutete, dass er selbst von irgendeiner Erinnerung zurückkehrte, denn im ersten Moment wirkte er verdutzt. Als verwirrte ihn die Frage. Dann richtete er sich auf.
    «Er ist – also, er lebt nicht mehr», sagte George Orson endlich. Seine Stirn furchte sich. «Er ist ertrunken. Irgendwo, ich glaube, so sieben, acht Kilometer nördlich von hier. Er war achtzehn. Es war das Jahr, wo er seinen Highschool-Abschluss machte, und ich war auf dem College, ich war noch in New Haven, und offenbar –» Er verstummte kurz, als rückte er in einem Zimmer in seinem Geist ein Bild zurecht.
    «Offenbar ist er nachts schwimmen gegangen, und – das war’s. Was passiert ist, kann man nicht sagen, weil er allein war, aber man hat auch das Warum nie ermittelt. Er war ein hervorragender Schwimmer.»
    «Das ist jetzt ein Witz», sagte sie.
    «Natürlich nicht», sagte er und bedachte sie mit einem seiner sanft vorwurfsvollen Blicke. «Warum sollte ich über so etwas Witze machen?»
    «Herrgott, George», sagte sie, und sie verstummten und starrten beide zu den schmalen schieferfarbenen Zirruswolken empor, die sich über den Himmel spannten. Die ehemalige Wasseroberfläche, zwölf Faden über ihnen.
    Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Wie lange waren sie jetzt schon zusammen? Fast fünf Monate? All diese stundenlangen Gespräche, all seine Vorträge über verschiedene Arten von Geschichte und über Filme und seine Jahre in Yale und seinen Geologenfreund und seinen Zauberkünstlerfreund und die verrückten Computerfreaks aus Atlanta, all dieses Strandgut seiner Erinnerung, und dennoch hätte sie nicht einmal die grundlegenden Eckpunkte seines Lebens zusammengebracht.
    «George», sagte sie, «findest du es nicht ziemlich merkwürdig, dass du mir nie erzählt hast, dass du einen Bruder hattest, der ums Leben gekommen ist?»
    Sie versuchte, ihren gewohnten flachsigen Ton beizubehalten, aber ihre Stimme stockte, und sie hatte das scheußliche Gefühl, dass sie wieder einen Weinkrampf bekommen könnte, wie an dem Tag, als sie den Zulassungsberater angerufen hatte. Sie schwieg kurz, presste die Lippen zusammen. « Ich hab dir von meinen Eltern erzählt», sagte sie.
    «Ja, hast du», sagte George Orson. «Und weißt du, ich bin dir immer

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