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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Society, Masque and Gavel, Future Business Leaders of America, Model United Nations und anderen mehr. Und bei den College-Eignungstests hatte sie 94 Prozent der möglichen Punktzahl erzielt.
    Was, wie ihr jetzt klarwurde, nicht annähernd gut genug war. George Orson hatte recht: Man musste sich von früh an – von der Grundschule, oder vielleicht sogar vom Kindergarten an – um eine ganz bestimmte Denkweise bemühen beziehungsweise musste, was wahrscheinlicher war, von Anfang an dazu erzogen worden sein. Und wenn man dann schließlich in Lucys Alter war …
    Die zwei anderen Briefe waren die Woche darauf gekommen.
    Sie wusste, dass es Absagen waren, noch ehe sie sie gelesen hatte. Als sie den Nachbarshund draußen stumpfsinnig beleidigt bellen hörte, öffnete sie endlich einen der Briefe und konnte sich schon nach dem ersten Wort den Rest denken.
    «Nach …»
    Sie legte die Hand flach auf das Blatt und schloss die Augen.
    Sie hatte sich so gut gehalten. Trotz des Todes ihrer Eltern, trotz ihrer entsetzlichen Situation zu Hause, des leeren Kühlschranks, der Rechnungen, die sie und Patricia nur mit Müh und Not bezahlen konnten, des wenigen Geldes, das Patricia im Circle K verdiente, und der zur Neige gehenden Versicherung ihrer Eltern, was sie zwang, sich von Tiefkühlfraß und Dosensuppen und grauenvollen Supermarkt-Hotdogs und -Nachos zu ernähren, die Patricia von der Arbeit mitbrachte – trotz der Tatsache, dass sie, anders als die meisten normalen Kids ihres Alters, weder ein Handy noch einen iPod, noch gar einen Computer besaß –
    Trotz allem war sie vorangekommen, und man konnte sagen, dass sie dabei ein gewisses Maß an Würde und Anmut an den Tag gelegt hatte, ja man hätte sie sogar als heroisch bezeichnen können, wie sie Tag für Tag zur Schule gegangen war und abends ihre Hausaufgaben gemacht hatte und ihre Referate geschrieben und sich in der Klasse gemeldet hatte, und sie hatte nicht ein Mal geweint, sich nie über das beklagt, was sie durchmachen musste . Zählte das etwa nichts?
    Offenbar nicht. Ihre Hand lag noch immer auf dem Brief, und sie schaute auf sie hinab, als sei sie ein verlorener Handschuh auf einer Schneeverwehung.
    Sie hatte sich getäuscht. Sie spürte, wie sich die Erkenntnis in ihr allmählich setzte. Das Leben, auf das sie sich zubewegt, in das sie sich hineinprojiziert hatte, die Ideen und Erwartungen, die noch vor ein paar Wochen so konkret und realistisch gewesen waren – dieses Leben war plötzlich ausgetilgt worden, und von ihrer Hand kroch ein taubes Gefühl den Arm hinauf, bis in ihre Schulter, und das Gebell im Haus nebenan schien sich in der Luft zu verfestigen.
    Ihre Zukunft war wie eine Stadt, in der sie noch nie gewesen war. Eine Stadt am anderen Ende des Landes, und sie fuhr die Straße entlang, all ihre Habseligkeiten im Fond des Wagens verstaut. Die Route war auf ihrer Straßenkarte deutlich eingezeichnet, doch dann hielt sie an einer Raststätte und sah, dass der Ort, wohin sie unterwegs gewesen war, gar nicht mehr existierte. Das Ziel ihrer Reise war verschwunden – hatte es vielleicht nie gegeben –, und wenn sie den Tankwart nach dem Weg fragen sollte, würde er sie nur verständnislos ansehen. Er würde nicht einmal wissen, wovon sie eigentlich redete.
    «Tut mir leid, Miss», würde er freundlich sagen. «Sie müssen sich irren. Von dem Ort hab ich noch nie was gehört.»
    Ein Gefühl, als bräche man auseinander.
    In dem einen Leben gab es eine Stadt, zu der man unterwegs war. In dem anderen war diese Stadt lediglich ein Ort, den man sich ausgedacht hatte.
     
    Das war eine Periode ihres Lebens, an die sie nicht gern dachte; trotzdem kehrten ihre Gedanken immer wieder zu ihr zurück. Es war eines der Dinge, die George Orson nicht verstehen würde, eines der Dinge, die sie ihm nie hätte erzählen können. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihm zu schildern, wie sie am Telefon mit einem «Berater» im Zulassungsbüro von Harvard gesprochen hatte – und dabei in Tränen ausgebrochen war –
    «Sie verstehen nicht», hatte sie gesagt, und es war ihr dabei nicht lediglich ein kleiner Schluchzer oder ein Wimmern entfahren – es war so gewesen, als ob ihr ganzer Körper ausliefe und hohl würde, ein stechendes Prickeln rann über ihre Kopfhaut und ihr Gesicht, und ihr Herz und ihre Lungen krampften sich zusammen. «Ich habe nichts», hatte sie gesagt. «Ich bin eine Waise», und sie hatte jegliches Gefühl in den Lippen verloren, und aus irgendeinem

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