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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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geschah im Rahmen der von Präsident Franklin Pierce geplanten Expansion nach Westen, du weißt schon, Oregon Trail, Ausbau der U.S. Army –»
    Lucy runzelte die Stirn. Sie hatte gehofft, mehr über ihre aktuelle Situation zu erfahren, aber wie es aussah, war das bloß wieder eines seiner Ablenkungsmanöver. Noch mehr Geschwätz über die Dinge, die ihn faszinierten, blödsinnig klingende New-Age-Weisheiten, gemixt mit regierungskritischer, verschwörungstheoretischer Geschichtsanalyse – obwohl es ihr früher gefallen hatte, wenn er über derlei Zeug dozierte, nicht zuletzt, weil ihr das die Möglichkeit gab, in die Rolle der Skeptikerin zu schlüpfen.
    «Ja, klar», sagte sie jetzt und verfiel wieder in den plänkelnden Ton, den sie früher im Unterricht gepflegt hatten: der ernsthafte Lehrer und die ironisch-kritische Schülerin.
    «Dann vermute ich, dass es hier in der Gegend auch geheime UFO-Landeplätze gibt», sagte sie.
    «Haha», sagte er.
    Und dann streckte er den Finger aus, und sie spürte ein Prickeln im Nacken.
    Vor ihnen erhoben sich inmitten von noch angewachsenen Steppenläufern und hohem dürrem Gras zehn, zwölf Häuser aus dem Sand und getrockneten Schlick – obwohl «Häuser» nicht ganz das richtige Wort war.
    Ruinen , dachte sie. Fragmente von Gebäuden in unterschiedlichen Stadien des Verfalls, Fundamente und verstreute Betonplatten, ein massiger hexagonaler Block, ein Pfeiler mit quadratischem Querschnitt, ein dreieckiges Eckstück – alles mit hinterherflatternden Schweifen von Sand. Da war eine einzelne baufällige Wand mit einer rechteckigen Türöffnung. Die Trümmer eines Klosetthäuschens oder Schuppens hatten sich zu einem Haufen mit Algen überwachsener und schlickverkrusteter, verrottender Bretter übereinandergeschoben, und jenseits davon ragte noch immer ein verbogenes rostiges Straßenschild empor. Am Ende dessen, was vermutlich einst die Straße gewesen war, erhob sich ein größerer quadratischer Bau mit einer niedrigen Freitreppe vor der steinernen Fassade.
    «Heilige Scheiße, George», sagte sie.
    Was von jeher ein weiterer Aspekt ihrer Beziehung gewesen war. Sie war die Zynikerin und er der Gläubige, wenngleich sie sich durchaus bekehrungsfähig zeigte. Denn sie ließ sich mitunter in einen Zustand mystischen Staunens versetzen, wenn George Orson nur überzeugend genug war.
    Und diesmal war es ihm gelungen.
    «Das war die Kirche», sagte er. Sie standen da nebeneinander, und sie dachte, dass er mit der «negativen Energie», oder was auch immer, tatsächlich recht hatte.
    «Sieht das nicht wie der ideale Ort für ein Ritual aus?», fragte George Orson.
     
    Und wieder stieg dieses Gefühl in ihr auf, diese Ahnung endzeitlicher Stille. Sie erinnerte sich an das, was George Orson zu ihr gesagt hatte, während sie durch Indiana oder Iowa gefahren waren und sie noch immer vage davon gesprochen hatte, aufs College zu gehen, dass sie sich in einem Jahr oder so noch einmal bewerben würde.
    «Ich würde mir das an deiner Stelle sparen», hatte George Orson gesagt und ihr einen Blick zugeworfen, dem sein einseitiges Lächeln gefolgt war. «Wenn du erst mal vierzig bist, wird’s nicht die geringste Rolle mehr spielen, ob du einen College-Abschluss hast oder nicht. Ich bezweifle, dass die Yale University da überhaupt noch existieren wird.»
    Und Lucy hatte ihn streng angesehen. «Ja, klar», sagte sie. «Und Affen werden die Welt beherrschen.»
    «Im Ernst», sagte George Orson. «Ich würde nicht einmal darauf wetten, dass es zu dem Zeitpunkt noch die Vereinigten Staaten geben wird. Jedenfalls nicht so, wie wir sie jetzt kennen.»
    «George», sagte sie, «ich hab nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest.»
     
    Aber jetzt, wo sie auf dem Grund des ausgetrockneten Stausees stand, auf der Treppe der alten Kirche, auf der ein mumifizierter Karpfen in einem Nest aus spinnwebdurchzogenem Moos ruhte – jetzt konnte sie sich leicht vorstellen, die Vereinigten Staaten wären bereits untergegangen; die Städte wären niedergebrannt und die Highways mit rostenden Autos verstopft, die es nicht mehr hinausgeschafft hatten.
    «Es ist komisch», sagte George Orson weiter. «Meine Mutter erzählte uns früher immer, wenn das Wasser klar sei, könne man den Kirchturm in der Tiefe sehen – was natürlich ein Mythos war, aber mein Bruder und ich fuhren oft mit dem Kahn hier raus und tauchten und suchten danach. Wir sind hier wahrscheinlich ungefähr, was würdest du sagen?, fast in der

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