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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Grund befürchtete sie, vielleicht sogar blind zu werden. Ihre Finger zitterten. «Meine Eltern sind beide tot», sagte sie, und unterhalb ihrer Kehle schien sich ein schwerer schartiger Raum aufzutun.
    So fühlte sich richtiger Kummer an. Bis dahin hatte sie noch nie so etwas wirklich verspürt. Wann immer sie im Lauf ihres Lebens traurig gewesen war, wann immer sie geweint hatte, alle trüben und melancholischen Stimmungen waren lediglich das gewesen: Stimmungen , vorübergehende Launen. Kummer aber war etwas vollkommen anderes.
    Sie ließ den Telefonhörer hinuntergleiten, legte sich die Hand auf den Mund, aus dem ein entsetzlicher lautloser Atemzug herauskam.
    Und als George Orson ihr ein paar Wochen später vorschlug, mit ihm die Stadt zu verlassen, fühlte es sich wie die einzig vernünftige Option an.
     
    Sie hatten den Rand der Bootsrampe erreicht, einer abschüssigen Zementfläche, die in den ehemaligen See hinunterführte, und da stand ein verwittertes Schild mit der Aufschrift:
     
    SCHWIMMEN UND WATEN
    IM UMKREIS VON FÜNF METERN
    VON RAMPEN UND STEGEN
    VERBOTEN
     
    «Das hatte ich dir zeigen wollen», sagte George Orson und deutete mit der Hand auf eine unbestimmte Stelle der unkrautüberwucherten sandigen Ebene, die einst unter Wasser gelegen hatte.
    «Ich sehe nichts», sagte Lucy.
    Mittlerweile hatte sie schon längere Zeit ihren Gedanken nachgehangen und war, parallel zum abschüssigen Weg, immer trübsinniger geworden, aber natürlich konnte George Orson nicht in ihren Kopf hineinsehen. Er wusste nicht, dass sie sich gerade an die größte Demütigung ihres Lebens erinnerte; dass sie mit dem Gedanken spielte, ihn zu verlassen; er konnte nicht hören, wie sie sich fragte, ob es im Haus irgendwelches Geld gab.
    Ihre Stimmung konnte er allerdings durchaus erkennen; sie merkte, wie sehr er sich bemühte, sie zu unterhalten. Jetzt war er an der Reihe, sie nach Möglichkeit aufzuheitern. «Wart nur ab. Das wird dir gefallen», sagte er mit etwas wie Begeisterung in der Stimme und nahm sie bei der Hand.
    Ihr ganz persönlicher Geschichtslehrer.
    «Dahinten war die Stadt», sagte er und gestikulierte wie ein Fremdenführer. «Lemoyne», sagte er. «So hieß sie. War eigentlich nicht mehr als ein Dorf, und als in den dreißiger Jahren beschlossen wurde, den Staudamm zu bauen, kaufte der Staat das ganze Land und die Häuser auf, siedelte die Einwohner um und setzte dann alles unter Wasser. Das kommt übrigens gar nicht mal so selten vor. Ich würde mal schätzen, dass es in den Vereinigten Staaten Hunderte solcher ‹ertrunkenen Städte› gibt – so werden sie, glaube ich, genannt. Das technische Know-how für den Bau solcher Stauseen zur Bewässerung und zum Betreiben von Wasserkraftwerken schritt voran, und die Menschen mussten einfach das Feld räumen –»
    Er verstummte, um sich zu vergewissern, dass er noch immer ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hatte.
    «So ist das eben mit dem Fortschritt», sagte er.
     
    Jetzt sah sie sie. Die «Stadt». Oder besser gesagt, was davon noch übrig war, und das sah streng genommen nicht sonderlich stadtmäßig aus. In der Talsenke tobte ein Staubsturm, und die Gebäude in der Ferne erschienen verschwommen, wie im Nebel.
    «Wow», sagte sie. «Das ist ja irre.»
    «Nebraskas Version von Atlantis», sagte George Orson und warf ihr einen Blick zu, um ihre Reaktion abzuschätzen. Sie sah ihm an, dass er sich durch den Kopf gehen ließ, was er gleich sagen würde, es sich dann aber anders überlegte.
    «Hier ist viel Energie», sagte George Orson, und da war wieder sein eindringliches, komplizenhaftes Lächeln. Er scherzte, aber sie spürte zugleich auch einen Ernst, den sie nicht ganz verstand.
    «Energie», sagte sie.
    Sein Lächeln ging in die Breite – als wüsste sie ganz genau, worauf er hinauswollte. «Energie von der übernatürlichen Sorte», sagte er. «Heißt es jedenfalls. Die Stadt wird in allen diesen spinnerten Büchern aufgeführt – Die verwunschensten, geheimnisvollsten Orte der Great Plains , du weißt schon, was ich meine. Was nicht heißen soll, dass ich das rundweg für Blödsinn halte. Aber ich könnte mir denken, dass die Energie, wenn es hier wirklich welche gibt, überwiegend negativer Art sein dürfte. Nicht allzu weit von hier fand die Schlacht von Ash Hollow statt. Im Jahr 1855 führte General William Harney sechshundert Soldaten gegen ein Sioux-Lager und ließ sechsundachtzig Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, massakrieren. Das

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