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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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angenommen hätte, dass es den wirtschaftlichen Niedergang dieser Viertels überleben würde. Seit Jahren hatte er nicht mehr an Matalov Novelties gedacht – bestimmt nicht mehr seit dem Tod seines Vaters, als er und sein Bruder dreizehn gewesen waren.
    Als Miles und Hayden noch Kinder waren, nahm ihr Vater sie regelmäßig zum Kuriositätenladen mit. Es war immer etwas Besonderes, ihn zu diesem eigenartigen heruntergekommenen Geschäft zu begleiten. Den Zauberladen nannte er es.
    Sie hatten ihren Vater nie bei seinen Auftritten sehen dürfen – nicht als Clown, nicht als Zauberkünstler und ganz gewiss nicht als Hypnotiseur. Daheim war er ein gesetzter, durch und durch untheatralischer Mensch, weswegen ihre Besuche bei Matalov Novelties ihnen umso mehr wie etwas Besonderes erschienen waren. Ihr Vater hielt sie bei den Händen. «Nichts anfassen, Jungs. Nur gucken.» Was sehr schwierig war, da es sich schließlich um einen Zauberladen handelte – Reihen über Reihen von deckenhohen Regalen, vollgestopft mit Antiquitäten und geheimnisvollen Utensilien, holzgeschnitzten Schachfiguren in Gestalt von Ungeheuern, chinesischen Fingerfallen, Federboas, Zylindern und Capes, einem ältlichen Rhesusäffchen in einem Silberkäfig –
    – und dann tauchte die alte Frau auf. Mrs.   Matalov. Bejahrt, aber nicht taperig, obwohl sich ihre Wirbelsäule allmählich zu einem Fragezeichen krümmte und ihre grelle seidenglänzende Bluse buckelig ausbeulte. Ihr Haar sah wie Pusteblumenflaum aus und war pfirsichrosa gefärbt, und ihr Mund schimmerte rot von dem fettig glänzenden Lippenstift, den Stummfilmschauspielerinnen früher trugen.
    «Larry», sagte sie mit russischem Akzent. «Wie schön, Sie zu sehen!» Ihr Vater produzierte eine kleine Verbeugung.
    Wenn Mrs.   Matalovs Blick dann auf Miles und Hayden fiel, vollführte sie eine kurze Pantomime der Verblüffung, atmete scharf zwischen den Zähnen ein und riss die Augen auf.
    «O Larry!», sagte sie. «So wunderschöne Jungen. Sie brechen mir das Herz.»
    Als Miles daran zurückdachte, fühlte es sich eher wie eine Episode aus einem Kinderbuch an als wie ein reales Erlebnis. Wie eine Lüge, die sich Hayden ausgedacht haben könnte. Und so war er jetzt kaum überrascht festzustellen, dass Matalov Novelties offensichtlich geschlossen hatte. Ein Faltgitter war vor den Eingang gezogen, und das schmale Schaufenster war mit Papier verklebt.
    Und dennoch – zwischen den Gitterstäben, durch das geriffelte Glas der Tür sah er, dass der Laden nicht leer geräumt war. Er konnte Regale ausmachen, und als er die Hand durch das Gitter steckte und an die Glasscheibe klopfte, meinte er eine Bewegung wahrzunehmen. Zögernd blieb er dort stehen, und bald war so viel Zeit vergangen, dass es sich idiotisch anfühlte, immer noch zu warten.
    Dann riss die alte Frau plötzlich die Tür auf und starrte ihn durch das Gitter an.
    «Das hier ist kein Einzelhandel!», schrillte sie. «Wir haben nichts von den Indians, nichts von den Browns und auch keine Cleveland-Andenken. Das ist kein Einzelhandelsgeschäft», wiederholte sie. Sie hatte einen noch härteren Akzent, als er in Erinnerung hatte. Er gaffte sie an, während sie ihm mit einer Hand weg, weg! bedeutete.
    «Mrs.   Matalov?», sagte er.
    Unnötig zu sagen, dass sie in den siebzehn Jahren, seit er sie zuletzt gesehen hatte, gealtert war. Schon damals, in seiner Kindheit, war sie eine alte Frau gewesen; jetzt war sie praktisch ein Skelett. Sie war kleiner, kürzer geworden. Die Biegung ihres Rückgrats war so ausgeprägt, dass sich die einzelnen Wirbel wie Zacken an ihrem gekrümmten Rücken abzeichneten, und ihr Kopf hing so tief herab, dass sie ihn wie eine Schildkröte nach oben verdrehen musste, um Miles überhaupt sehen zu können. Ihr Haar war sehr dünn, nur noch vereinzelte Büschel, aber nach wie vor pfirsichrosa gefärbt. Es war unglaublich, dass sie noch lebte, dachte Miles. Sie musste weit über neunzig sein.
    «Mrs.   Matalov?», sagte er noch einmal. Er bemühte sich, laut und deutlich zu sprechen, und setzte ein, wie er hoffte, gewinnendes Lächeln auf. «Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Miles Cheshire? Larry Cheshires Sohn? Ich bin jetzt wieder in Cleveland und …»
    «Einen Moment», sagte sie ärgerlich. «Sie nuscheln. Ich verstehe nicht, was Sie sagen. Einen Moment, bitte.»
    Sie brauchte zwar mehr als nur einen Moment, um das Faltgitter aufzuschließen und zurückzuziehen, aber sobald es offen war,

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