Identität (German Edition)
ließ sie ihn bereitwillig eintreten.
«Es tut mir wirklich leid, wenn ich Sie störe», sagte Miles und schaute sich um – alles war noch so, wie er es in Erinnerung hatte: die Reihen von Regalen, der Trödelladengeruch, gemischt aus Zigarettenrauch, Staub, Sandelholz und nasser Pappe. «Ich», sagte er verlegen, «– möchte wirklich nicht stören. Es ist nur so, ich bin seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in Cleveland und kam hier zufällig vorbei. Nostalgie, vermutlich. Mein Dad war früher Stammkunde bei Ihnen.»
«Larry Cheshire, ja. Das haben Sie schon gesagt», sagte Mrs. Matalov streng. «Ich erinnere mich. Ich selbst bin kein nostalgischer Mensch, aber kommen Sie rein, kommen Sie rein. Sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann. Sind Sie auch Magier? Wie Ihr Vater?»
«Oh», sagte Miles, «nein, nein.» Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah er, dass der Laden doch nicht mehr ganz so wie in seiner Kindheit aussah. Er wirkte eher wie eine alte Garage oder ein Dachboden, und die dunklen Gänge zwischen den langen, sich nach hinten hinziehenden Regalwänden waren mit unordentlich gestapelten, teilweise geöffneten Pappkartons vollgerümpelt. Vor den Regalen drängten sich mehrere Tische und Schreibtische, auf denen alte, unterschiedlich antiquierte PCs standen; dazu Monitore und ganze Nester von verhedderten Strom- und Datenkabeln. An einem der Schreibtische saß ein – vielleicht zwanzig-, einundzwanzigjähriges? – dunkelhaariges Mädchen, schwarz gekleidet und mit schwarz geschminkten Lippen und langen spitzen Anhängern an den Ohren, die wie die Zähne eines prähistorischen Raubtieres aussahen. Sie sah zu ihm auf, ausdruckslos und Ironie ausstrahlend.
«Nein, nein», sagte Miles. «Ganz bestimmt kein Magier. Ich habe eigentlich nie –» Und er spürte, dass er errötete, er wusste selbst nicht warum. «Ich bin eigentlich gar nichts», sagte er und folgte Mrs. Matalov mit den Augen, die mit einem wackligen, aber überraschend flinken Gang, wie jemand, der über dünnes Eis eilt, durch das Labyrinth von Schreibtischen trippelte.
«Wie schade», sagte Mrs. Matalov. Sie ließ sich auf einem Schreibtischstuhl nieder, dessen Rückenlehne noch mit mehreren Paradekissen ausgepolstert war. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, näher zu kommen und ebenfalls Platz zu nehmen. «Ihr Vater – ich mochte ihn sehr. Er war so ein freundlicher, gütiger Mensch.»
«Das war er», sagte Miles. Sie hatte recht: Aber wie lange war es her, dass er zuletzt an seinen Vater gedacht hatte? Ein Klumpen von altem Kummer erwachte und drehte sich in seiner Brust um.
«Armer Mann!», sagte sie. «Er war ein sehr talentierter Entertainer; das wissen Sie selbst. Wenn er zu einer anderen Zeit gelebt hätte, hätte er viel Geld verdienen können, statt auf Kindergeburtstagen aufzutreten.» Sie schnalzte missbilligend mit der Zunge, eine Serie von leisen Ausrufezeichen, und Miles hatte das Gefühl, dass sie ihm gleich Vorwürfe machen würde: einem jungen Mann, der sein Leben vergeudete. Aber sie musterte ihn lediglich mit einem wissenden Blick.
«Und was ist mit Ihrem Bruder?», sagte sie. «Er ist auch kein Magier, nehm ich an?»
«Nein», sagte Miles. «Er –»
Aber was war Hayden? Vielleicht ja doch so eine Art Magier.
«Ich erinnere mich an Sie beide», sagte Mrs. Matalov. «Zwillinge. Sehr hübsch. Sie waren der Schüchterne, glaube ich», sagte sie. «Miles. Der richtige Name für ein Mäuschen. Aber Ihr Bruder –» Und hier hob sie einen Finger und wedelte damit in keine bestimmte Richtung. «Das war ein ganz Schlimmer. Ein Dieb! Ich habe viele Male gesehen, wie er mich bestohlen hat, und am liebsten hätte ich ihn am Schlafittchen gepackt! Aber –» Sie zuckte die Achseln. «Ich wollte Ihren Vater nicht in Verlegenheit bringen.»
Miles nickte unbehaglich und warf dem dunkelhaarigen Mädchen, das ihn mit einem Ausdruck fast unmerklicher Belustigung beobachtete, einen Blick zu.
«Ja», sagte Miles. «Er konnte – frech sein.»
«Hmm», sagte Mrs. Matalov. «Frech? Nein. Schlimmer als das, glaube ich.» Und sie sah Miles, wie ihm vorkam, lange an. «Sie haben mir leidgetan», sagte sie. «So schüchtern und mit so einem Bruder!»
Miles sagte nichts. Er hatte nicht erwartet, sich in einer solchen Situation wiederzufinden – in diesem neongrau beleuchteten fensterlosen Raum, unter den aufmerksam-kritischen Augen der alten Frau und des dunkelhaarigen Mädchens.
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