Identität (German Edition)
Er hatte nicht erwartet, dass man sich an seinen Vater – oder an ihn – so genau erinnern würde. Was sollte er sagen?
Mrs. Matalov holte aus der Tasche ihrer dünnen Strickjacke eine Zigarette und spielte damit herum, ohne sie anzuzünden. «Ich hatte eine Schwester», sagte Mrs. Matalov. «Keine Zwillingsschwester, aber altersmäßig sehr nah. Eine furchtbare Angeberin. Wenn sie nicht gestorben wäre, wäre ich nie aus ihrem Schatten herausgekommen.» Sie zuckte die Achseln und hob milde ihre dünnen Augenbrauen. «Ich hatte also – Glück.»
Sie kramte wieder in der Tasche ihrer Strickjacke und zog ein durchsichtiges Plastikfeuerzeug heraus, das sie mit zitternder Hand anzuzünden versuchte. Miles machte eine unsichere Geste. Sollte er ihr helfen?
Aber bevor er zu einer Entscheidung kommen konnte, meldete sich das dunkelhaarige Mädchen plötzlich zu Wort. «Oma!», sagte sie scharf. «Nicht rauchen!» Und Miles entspannte sich wieder.
«Ah», sagte Mrs. Matalov. Sie sah Miles finster an. «Die da», sagte sie, womit sie zweifellos das Mädchen meinte. «Auch eine ganz Schlimme. Ist gegen Rauchen – aber Drogen! Drogen findet sie gut. Die findet sie so gut, dass die Polizei gekommen ist und ihr ein Überwachungsgerät am Fußknöchel befestigt hat. Eine elektronische Fußfessel. Wie finden Sie das? Und jetzt ist die Ärmste meine Gefangene. Ich halte sie hier eingesperrt, und sie sollte nicht überall ihre Nase reinstecken, sonst lege ich ein Tuch über ihren Käfig, wie bei einem Papagei.»
Miles war sprachlos. Zu viele Dinge, zu viele seltsame Offenbarungen wirbelten in seinem Kopf herum – auch wenn er durchaus mit dem Mädchen Blicke tauschte und ihr schwarzer Haarvorhang und ihre komplizierten Augen eine ganze Abfolge von nicht zu entschlüsselnden Botschaften übermittelten.
Mrs. Matalov hatte es inzwischen geschafft, ihrem Feuerzeug eine Flamme zu entlocken, steckte sich die Zigarette in den Mund und hinterließ einen Abdruck aus Lippenstift auf dem Filter.
«Also –», sagte sie, während sie ihn prüfend ansah. «Miles Cheshire. Was führt Sie nach Cleveland? Was machen Sie, wenn Sie kein Magier sind?»
Miles grübelte über diese Frage nach. Was war er? Er betrachtete die mit gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos bedeckte Wand – verschiedene Varietékünstler aus den Dreißigern und Vierzigern, in Smoking und Cape, mit Turban und Spitzbart und theatralisch eindringlicher Miene. Da war Mrs. Matalov selbst – vielleicht zwanzig Jahre alt, in ihrer dunkeläugigen Schönheit ihrer Enkelin nicht unähnlich, in einem paillettenbesetzten Zirkustrikot und einem Kopfputz aus Pfauenfedern. Die Assistentin eines Zauberkünstlers bei einem Auftritt im legendären Hippodrome Theater, dreieinhalbtausend Sitzplätze, eine wunderschöne Bühne, jetzt nichts mehr als ein Parkplatz an der East 9th.
Und da war auch ein Foto seines Vaters. Sein Vater, hochgewachsen und feierlich in einem Cape, ein dünnes Schnurrbärtchen, mit Fettschminke unter die Nase gemalt, ein Zauberstab in der hoch erhobenen Rechten, zu seinen Füßen Rosen- und Liliensträuße. Seine Augen gütig und traurig – als ob er wüsste, dass Miles viele Jahre später dieses Bild anschauen und ihn wieder vermissen würde.
«Kennen Sie sich mit Computern aus?», fragte unterdessen Mrs. Matalov. «Wir haben eine sehr große Webpräsenz. Wir verkaufen fast nur noch über das Internet. Um die Wahrheit zu sagen, mach ich meine Tür gar nicht mehr auf. Die zahlenden Kunden, die in den letzten zwanzig Jahren von der Straße in mein Geschäft gekommen sind, kann ich an den Fingern abzählen. Jetzt gibt es da draußen nur noch Obdachlose und Ladendiebe und Touristen mit ihren Kindern. Ehrlich gesagt habe ich Kinder nie ausstehen können», sagte Mrs. Matalov, und ihre Enkelin, Aviva, hob die Augenbrauen und starrte Miles an.
«Das stimmt», sagte Aviva.
Und Miles sagte: «Ich kenne mich mit Computern aus. Eigentlich. Ich meine, ich bin auf der Suche nach einem Job.»
Später fiel es ihm nicht leicht zu erklären, inwiefern diese Begegnung ihm wie eine besondere Fügung erschienen war, ohne melodramatisch zu klingen, ohne so zu tun, als sei er davon überzeugt, dass etwas – was? Übernatürliches? – geschehen war.
«Das hat mich umgehauen, irgendwie», sagte er später zu John Russell. Sie saßen wieder im Parnell’s, und Miles dachte an einige der Dinge, die Mrs. Matalov zu ihm gesagt hatte.
Sie haben mir leidgetan
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