Identität (German Edition)
, hatte sie gesagt. Und: Wenn sie nicht gestorben wäre, wäre ich nie aus ihrem Schatten rausgekommen . Und: Das war ein ganz Schlimmer. Und: Das wird böse enden, mit Ihrem Bruder. Das kann ich Ihnen versichern.
«Ich find das toll», sagte John Russell. «Dann führst du also die Familientradition fort. Das ist cool, irgendwie.»
«Ja», sagte Miles. «Ist es wohl.»
Und wie er jetzt in einer anderen Bar saß, sechseinhalbtausend Kilometer vom Parnell’s Pub entfernt, glitten die Bilder wie Schlittschuhläufer über die Oberfläche seines Bewusstseins. Das waren die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, während er, das Handy am Ohr, in der Bar in Inuvik saß. Das brennende Haus. Der Hubschrauber. Die verknoteten Bettlaken um Clayton Combes Kehle. John Russell, der sein Glas Bier hob, Mrs. Matalov, die sich die Zigarette an die wachsroten Lippen führte.
Jedes Bild klar umgrenzt und komprimiert, wie einzeln ausgelegte Tarotkarten.
«Sicher», sagte er zur amerikanischen Frau. «Ja, absolut. Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, um ausführlicher über diese Angelegenheit zu sprechen. Könnten wir uns vielleicht …»
Einen Gutteil des Tages hatte er damit zugebracht, durch Inuvik zu schlendern. Es war noch immer taghell, als er aufwachte, und als er auf die Straße ging, war der Himmel von einem nach unten hin immer mehr verblassenden Dunkelblau. Die Wolken stapelten sich wie Berge am Horizont. Oder vielleicht waren es auch Berge, die wie Wolken aussahen, er wusste es nicht so genau. Betonplatten waren zu einem zwischen Fahrbahn und Parkbuchten vor schuhkartonartigen Häusern verlaufenden Bürgersteig aneinandergelegt worden, die durchweg das billige, hastig zusammengeschusterte Aussehen einer Ladenstraße am Stadtrand hatten – Wellblechverkleidung, Satellitenschüsseln, die ihre schweren Köpfe über die Dächer hängen ließen. Er hatte seinen Stoß Steckbriefe dabei und blieb kurz stehen, um einen davon an einen kahlen Telegrafenmast zu tackern, wo er dann unsicher, unbeständig im Wind flatterte.
Er würde die ganze Stadt zutapezieren, dachte Miles, als er dastand und die Hochglanzbroschüre durchblätterte – Inuvik Attraction and Service Guide –, die es an der Hotelrezeption umsonst gegeben hatte. Wo würde sich Hayden am ehesten blicken lassen? Im Boreal Bookstore? Vor der berühmten Iglu-Kirche, Our Lady of Victory? Auf dem Campus des Aurora College? Er hatte die Liste der dort angebotenen Kurse durchgelesen und konnte sich eines gewissen Argwohns nicht erwehren. Microsoft Excel 1, von George Doolittle; Fußreflexzonenmassage mit staatlich anerkanntem Diplom, von Allain St. Cyr; Outdoor-Erste-Hilfe für Fortgeschrittene, von Phoebe Punch. Klangen die Namen nicht alle ein bisschen wie erfunden?
Und was war mit dem Schnapsladen von Inuvik? Den Bars – dem Mad Trapper Pub vielleicht, oder der Nanook Lounge? Vielleicht hatte Hayden beim Arctic Chalet einen Wagen gemietet oder war in der Stadtbücherei gewesen, oder hatte sich einen Führer besorgt und in die Wildnis aufgemacht – wohin?
Gott! Das passierte ihm jedes Mal. Am Anfang war er wild entschlossen, durch nichts aufzuhalten, aber kaum hatte er sein Ziel erreicht, verflog seine ganze Selbstsicherheit.
Was wusste er denn überhaupt noch von Hayden? Nach zehn Jahren war sein Bruder kaum mehr als eine Mutmaßung – eine Ansammlung von Postulaten und Projektionen, Briefen und E-Mails, randvoll von Paranoia und dunklen Andeutungen, nächtlichen Telefonaten, in denen sich Hayden manisch über seine jeweils aktuellen fixen Ideen verbreitete. Es gab ein paar Dinge, die er in verschiedenen Wohnungen hier und dort im Land zurückgelassen hatte, ein paar Leute, die ihn in der einen oder anderen Inkarnation gesehen oder gekannt hatten.
In Los Angeles zum Beispiel hatte Miles die verlassene Wohnung von Hayden Nash gefunden, den die Nachbarn als dunkelhaarig, «möglicherweise Hispanic», geschildert hatten, als einen «eigenbrötlerischen Typ», mit dem anscheinend niemand redete und dessen verdreckte Wohnung vollgerümpelt war mit Stapeln von Boulevardzeitungen und unleserlichen Matrixprinter-Ausdrucken und zwei Dutzend Computern mit gründlich gelöschten, blütenreinen Festplatten. In Rolla, Missouri, hingegen beschrieben die Dozenten Miles Spady als einen brillanten jungen Mathematiker, einen dünnen blonden Engländer, der behauptete, sein Grundstudium im Computer Laboratory der Universität Cambridge absolviert zu haben.
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