Identität (German Edition)
Kreditgenossenschaft in Pompey, Ohio. Gestohlen – sagen wir, veruntreut – habe ich das Geld von einem Unternehmen. Einem sehr großen, globalen Unternehmen. Was die Sache ein bisschen komplizierter macht. Ich meine … du hattest doch früher den Wunsch geäußert, irgendwann mal bei einem internationalen Finanzdienstleister zu arbeiten. Wie Goldman Sachs. Richtig? Und angenommen, du fändest einen Weg, Geld aus deren Vermögen abzuzweigen, dann würdest du bald merken, dass die alles in ihrer Macht Stehende täten, um dich zu finden und vor Gericht zu schleifen. Sie würden sich natürlich einerseits an die Polizei wenden, aber wahrscheinlich auch zu anderen Mitteln greifen. Privatdetektive. Kopfgeldjäger. Würden sie Killer einsetzen? Folterexperten? Wahrscheinlich nicht. Aber du verstehst schon, was ich meine.»
«Nein, ehrlich gesagt, nicht», sagte Lucy. «Willst du damit sagen, du hast Goldman Sachs bestohlen?»
«Nein, nein», sagte George Orson. «Das war nur ein Beispiel. Ich versuche nur …» Und dann seufzte er resigniert. Ein für George Orson ganz untypisches Geräusch, dachte sie, fast das Gegenteil des verschwörerischen Schmunzelns, das sie am Anfang so anziehend und faszinierend an ihm gefunden hatte. «Schau», sagte er. «Ich wünschte, die Dinge hätten sich nicht so entwickelt. Ich habe die ganze Zeit geglaubt, ich kriege das alles allein auf die Reihe und du brauchst nicht mal was von – von der ganzen Sache zu erfahren. Ich dachte, ich kann alles regeln, ohne dich hineinzuziehen.»
Und dann schwieg er, brütend, und klopfte mit dem Rand des Fingernagels gegen seine Kaffeetasse. Tink, tink, tink . Sie beide befangen und besorgt. Es war deprimierend, dachte Lucy – und vielleicht war es tatsächlich besser gewesen, als sie überhaupt nichts gewusst hatte, als sie darauf vertraut hatte, dass er schon alles regeln würde. Darauf vertraut hatte, dass sie auf dem Weg in eine wunderbare Zukunft waren: eine zurückhaltende, aber geistreiche junge Frau und ihr weltgewandter, geheimnisvoller älterer Lover, vielleicht auf einem Kreuzfahrtschiff mit Kurs auf Monaco oder Playa del Carmen.
Sie dachte nach, ließ sich von diesem alten Tagtraum flüchtig berühren. Dann senkte sie endlich wieder den Kopf, um auch die übrigen Dokumente zu lesen, die George Orson ihr vorgelegt hatte.
Hier war die Reiseroute. Von Denver nach New York. Von New York zum Felix Houphouet Boigny International Airport in Abidjan, Elfenbeinküste.
Hier waren die Sozialversicherungskarten und Geburtsurkunden, die sie benutzen würden: David Fremden, fünfunddreißig Jahre alt, und seine Tochter, Brooke Fremden, fünfzehn.
«Ich kann die beschleunigte Ausstellung der Reisepässe beantragen, das wird kein großes Problem sein», erklärte ihr George Orson. «Wir können einen Eilpass in zwei bis fünf Tagen bekommen. Aber dazu müssten wir sofort handeln und schon morgen zu einem Gericht oder Postamt, um den Antrag einzureichen –»
Aber er verstummte, als sie zu ihm aufsah. Sie hatte nicht vor, sich hetzen zu lassen. Sie würde gründlich über die Sache nachdenken, das musste er begreifen.
«Wer sind die?», sagte sie. «David und Brooke?»
George Orson runzelte wieder vorwurfsvoll die Stirn. Selbst jetzt noch knauserig mit Informationen. Aber er hatte versprochen zu antworten.
«Sie sind niemand Bestimmtes», sagte er müde. «Das sind einfach Leute.» Und er strich sich mit der Hand über die Haare. «Sie sind tot », sagte er. «Vater und Tochter, bei einem Wohnungsbrand in Chicago ums Leben gekommen, vor ungefähr einer Woche. Und das ist der Grund, warum diese Dokumente uns jetzt von großem Nutzen sind. Es gibt ein Zeitfenster, bis die Todesfälle an alle zuständigen Behörden gemeldet worden sind.»
«Ich verstehe», sagte sie. Das war so ziemlich alles, was ihr dazu einfiel, und sie schloss kurz die Augen. Aber sie wollte sie sich nicht vorstellen – David und Brooke, wie sie im Rauch und der Hitze ihrer brennenden Wohnung nach Luft schnappten –, und deswegen starrte sie konzentriert auf die Geburtsurkunde, als sei sie eine Liste von Prüfungsfragen, die sie auswendig lernen musste.
GEBURTSURKUNDE: 112 - 89 - 0053
Brooke Catherine Fremden, 15. März 1993
04 : 22, weiblich, Swedish Covenant Hospital
Chicago, Cook County
Hier war der Mädchenname der Mutter: Robin Meredith Crowley, geboren im Staat Wisconsin, zum Zeitpunkt von Brookes Geburt einunddreißig Jahre
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