Identität (German Edition)
alt.
«Also», sagte Lucy, nachdem sie diese Urkunde eine Zeitlang schweigend studiert hatte. «Was ist mit der Mutter? Robin? Werden die nicht nach ihr fragen?»
«Sie ist schon vor einiger Zeit gestorben», sagte George Orson und deutete ein Achselzucken an. «Als Brooke zehn war, glaube ich. Umgekommen bei einem, äh …» Und dann verstummte er, wie um Lucy – oder Brooke? – zu schonen. «Wie auch immer», sagte er. «Der Totenschein der Mutter ist da auch irgendwo, wenn du also …»
Bei einem Autounfall. Das war’s vermutlich gewesen, aber vielleicht wollte sie es auch gar nicht wissen.
«Dieses Mädchen ist erst fünfzehn», sagte Lucy. «Ich sehe nicht wie fünfzehn aus.»
«Stimmt», sagte George Orson. «Und ich hoffe, dass ich auch nicht wie fünfunddreißig aussehe, aber wir können was dran drehen. Glaub mir, nach meinen Erfahrungen können die Leute ganz schlecht jemandes Alter schätzen.»
«Hmm», sagte Lucy, die noch immer auf die Urkunde starrte. Die noch immer an die Mutter dachte. Robin. An David und Brooke. Hatten sie versucht, dem Feuer zu entkommen, waren sie im Schlaf gestorben?
Die armen Fremdens. Die ganze Familie vom Antlitz der Erde ausgetilgt.
Draußen brannte die Spätvormittagssonne hell auf den japanischen Garten herab. Das Unkraut stand hoch und dicht, und es war weder von der kleinen Brücke noch von der Kotoji-Laterne etwas zu sehen. Die Krone der Trauerkirsche ragte aus dem Unkraut hervor, als schnappte sie nach Luft, die Zweige hingen wie langes nasses Haar herunter.
Vieles war an dieser Situation beunruhigend, aber das, was sie am meisten störte, war die Vorstellung, sich für George Orsons Tochter ausgeben zu müssen, das wurde ihr jetzt bewusst.
Warum konnten sie nicht einfach Reisegefährten sein? Freund und Freundin? Mann und Frau? Wenn es sein musste, Onkel und Nichte?
«Ich weiß, ich weiß», sagte George Orson.
Es war unangenehm, es mit einem so kleinlauten George Orson zu tun zu haben, einer reduzierten Version des Mannes, den sie kannte. Als sie sich von Fenster und Garten abwandte, setzte er sich auf seinem Stuhl um. «Es ist bedauerlich», sagte er. «Um ehrlich zu sein, bin ich auch nicht besonders glücklich mit dieser Lösung. Ich finde sie ebenfalls ziemlich makaber. Ganz davon zu schweigen, dass ich mich noch nie als jemand betrachten musste, der alt genug ist, um eine halbwüchsige Tochter zu haben!» Er versuchte es mit einem kleinen Lachen, als ob sie das amüsant finden könnte, aber das tat sie nicht. Sie wusste nicht hundertprozentig, wie sie sich fühlte, aber auf jeden Fall war sie nicht in der Stimmung, seine Witzeleien zu goutieren. Er streckte die Hand nach ihrem Bein aus, hielt es dann für doch nicht ratsam und zog sie wieder zurück, und sein Lächeln schrumpfte unter ihrem Blick kläglich in sich zusammen.
Das wollte sie aber auch nicht: diese zunehmende unbehagliche Anspannung, die zwischen ihnen herrschte, seit er angefangen hatte, ihr die Wahrheit zu erzählen. Es hatte ihr gefallen, wie sie miteinander scherzten. Schlagabtausch nannte George Orson ihre Wortgeplänkel, und es wäre furchtbar, wenn es damit jetzt vorbei wäre, wenn sich die Dinge zwischen ihnen so sehr änderten, dass ihre frühere Beziehung jetzt unwiederbringlich verloren wäre. Sie hatte es geliebt, dass sie Lucy und George Orson waren – «Lucy» und «George Orson» –, und vielleicht waren es bloß Rollen, die sie füreinander spielten, aber es hatte sich leicht und natürlich angefühlt und hatte Spaß gemacht. Dieses Spiel war ihr wahres Ich, das sie erst entdeckt hatte, als sie ihn kennenlernte.
«Glaub mir, Lucy», sagte er jetzt, sehr feierlich und ganz und gar nicht wie George Orson. «Glaub mir», sagte er. «Das war nicht meine erste Wahl. Aber ich hatte nicht viele Alternativen. In unserer momentanen Situation war es nicht gerade einfach, die erforderlichen Dokumente zu beschaffen. Mir standen einfach nicht allzu viele Möglichkeiten zur Auswahl.»
«Okay», sagte Lucy. «Kapiert.»
«Fass es einfach als Spiel auf», sagte George Orson. «Wir tun so, als ob.»
«Kapiert», sagte Lucy noch einmal. «Ich verstehe, was du sagst.»
Was die Sache allerdings nicht unbedingt leichter machte.
Am Nachmittag musste sich George Orson «um ein paar Sachen kümmern».
Was irgendwie fast beruhigend war. Seit sie dort wohnten, war er regelmäßig für Stunden am Stück verschwunden – hatte sich im Herrenzimmer eingeschlossen oder war ohne
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