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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Sonnenlicht durch seinen Körper hindurchscheinen.
    Mir ist alles egal , dachte er, die Zukunft ist mir egal, mir ist egal, was mit mir passiert, mir ist egal, was meine Familie denkt, mir ist alles, alles egal . Und jedes Mal, wenn er sich das im Geist vorsagte, war es so, als löste sich eine weitere Last von seiner Seele und flatterte wie ein Schmetterling davon.
     
    Und dann kam er eines Tages nach Hause, und seine Mutter erwartete ihn in der Küche.
    Wie sich herausstellte, war es nicht die Anwesenheitssekretärin gewesen, die Stacey kontaktiert hatte, auch keiner von seinen Lehrern; es war Pixies Vater gewesen. Er hatte anscheinend ein paar von den E-Mails, die sie sich geschrieben hatten, gelesen und dann Pixies Tagebuch gefunden, woraufhin – und das war etwas, das Ryan nicht erwartet hatte und auch nicht begriff – Pixie ihm alles gebeichtet hatte. Ihrem Vater.
    Der jetzt entsprechend wütend war. Der Ryan am liebsten umgebracht hätte.
    «Haben Sie eine Tochter, Mrs.   Schuyler?», hatte Pixies Vater gefragt. Ryans Mutter saß gerade an ihrem Schreibtisch, in ihrem Büro bei Morgan Stanley in Omaha, wo sie als Wirtschaftsprüferin arbeitete, und Mr.   Pixie sagte: «Wenn Sie eine Tochter hätten, wüssten Sie, wie ich mich fühle.
    Ich fühle mich geschändet. Ich fühle mich von ihrem perversen Sohn beschmutzt», erklärte er Stacey. «Und Sie sollen eins wissen», sagte er. «Wenn sich herausstellt, dass meine Tochter schwanger ist, komme ich zu Ihnen nach Hause und nehme mir Ihren Sohn vor, und dann schlage ich ihm sämtliche Zähne aus.»
     
    Als Ryan heimkam, hatte Stacey schon die Polizei angerufen und Pixies Vater wegen Morddrohung angezeigt, und sie hatte mit einem befreundeten Anwalt gesprochen, der dabei war, eine einstweilige Verfügung zu erwirken. Aber davon erzählte sie ihm nichts, als er in die Küche kam, den Kühlschrank öffnete und hineinspähte. Er schenkte ihr nicht allzu viel Beachtung. Soweit er das mitbekam, war sie häufig schlecht gelaunt. Sie platzierte sich dann in der Küche oder im Fernsehzimmer, oder an irgendeiner anderen strategischen Stelle, wo man sie schweigen sehen konnte, und dann fing sie an, harte radioaktive Wellen von Negativität auszusenden. Wenn sie so drauf war, hütete er sich, sie auch nur anzuschauen.
    Also holte er die Milch raus, während sie am Küchentisch saß und vor sich hin starrte. Er schüttete sich etwas Getreideflocken in einen Napf und goss Milch darüber, und als er gerade mit seinem Snack ins Fernsehzimmer gehen wollte, sah Stacey zu ihm auf.
    «Wer bist du?», fragte sie.
    Ryan hob widerwillig den Kopf. Das war auch so eine Methode von ihr, diese leisen, unerforschlichen Fragen zu stellen. «Äh», sagte er. «Wie bitte?»
    «Ich habe gefragt, wer du bist», murmelte sie mit einer traurig sinnierenden Stimme. «Denn ich glaube nicht, dass ich dich kenne, Ryan.»
    Da machte sich bei ihm das erste Kribbeln von Nervosität bemerkbar. Er wusste, dass sie es herausgefunden hatte – aber was? Wie viel? Er spürte, dass sein Gesicht sich verhärtete und ausdrucksloser wurde. «Ich weiß nicht, wovon du redest», sagte er.
    «Ich dachte, du wärst ein vertrauenswürdiger Mensch», sagte Stacey. «Ich dachte, du wärst verantwortungsbewusst, reif, hättest einen Lebensplan. Das habe ich bisher angenommen. Aber jetzt kann ich nicht ergründen, was in dir vorgeht. Ich habe keine Ahnung.»
    Er hatte noch immer die Schüssel Zerealien in der Hand, die ein fast unhörbares Flüstern von sich gab, während sich die Puffkörner mit Milch vollsogen.
    Er wusste nicht, was er sagen sollte.
    Es durfte nicht sein, dass sein Abenteuer mit Pixie zu Ende war, und er dachte sich, wenn er einfach nichts sagte, würde es noch eine Weile so weitergehen. Er könnte weiterhin glücklich sein, ihm wäre weiterhin alles egal, und er würde sich weiterhin jeden Morgen an der Nordseite der Schule mit ihr treffen und ihr zuschauen, wie sie eine Zigarette rauchte und mit ihrem Lippenpiercing spielte, den Ring durch das Loch in ihrem Fleisch drehte und drehte.
    «Willst du dein Leben verpfuschen?», redete Stacey inzwischen weiter. «Willst du so enden wie dein Onkel Jay? Denn du bist auf dem besten Weg dazu. Er hat sein Leben vermasselt, als er so alt war wie du, und er ist nie wieder hochgekommen. Nie. Er ist zu einem Versager geworden, und genau das steht dir ebenfalls bevor, Ryan.»
     
    Erst Jahre später begriff er, wovon sie eigentlich redete.
    Du wirst so enden

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