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Idol

Idol

Titel: Idol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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war, als
     hätte ich Vittoria erbleichen sehen, und ich fragte mich, ob sie nicht trotz des Latein, mit dem Seine Eminenz seine Bosheit
     verhüllte, deren Sinn verstanden hatte.
    Es folgte ein Schweigen, das niemandem angenehm war, |43| ganz gewiß auch Francesco Peretti nicht. Er stand hinter Vittoria, viel weniger beherrscht als sie, wurde abwechselnd rot
     und blaß und hielt den Blick seiner farblosen Augen ängstlich auf seinen Onkel gerichtet.
Il bello muto
ließ seinen erstaunten Blick von seinem Herrn zu Vittoria wandern. Da er selbst weiblichem Charme gegenüber nicht unempfindlich
     war (wie es heißt, hatte er vor seinem Unfall die wärmsten Gefühle für die Contessa V. gehegt), fragte er sich zweifellos,
     warum der Kardinal mit Vittoria sofort Streit über ihre erstaunliche Haarpracht gesucht habe. Vielleicht dachte er ebenso
     wie ich daran, daß Maria Magdalena Unserem Herrn Jesus Christus mit ihrem langen Haar die Füße getrocknet und der Herr mitnichten
     verlangt hatte, sie solle es abschneiden, sondern diese Huldigung mit seiner gewohnten Sanftmut geduldet hatte.
    In diesem Moment hätte niemand auch nur die geringste Spur von Milde auf Montaltos furchterregendem Antlitz entdecken können.
     Nachdem Seine Eminenz, durch Vittorias Schönheit und Würde überrascht, für kurze Zeit milde gestimmt schien, war sein Gesicht
     plötzlich wieder bärbeißig geworden. Die Diskussion über Vittorias Haar hatte offenbar erneut seinen latenten Frauenhaß geweckt,
     der bei keuschen Priestern so häufig anzutreffen ist, daß man sich fragt, ob ihre Keuschheit tatsächlich ein so großes Verdienst
     ist, wie sie glauben. Wie dem auch sei, Vittorias Sache schien beinahe verloren, ohne überhaupt verhandelt worden zu sein,
     denn Montalto wandte sich an den
bello muto
(vielleicht grollte er mir, weil ich auf seine Bemerkung über Tarquinia nicht hatte antworten wollen) und sagte wieder in
     Latein:
    »In vero formosa est. Sed rara est adeo concordia formae atque pudicitiae.«
1
    Trotz der grenzenlosen Verehrung, die
il bello muto
für den Kardinal hegte, stimmte er nicht immer mit ihm überein: er hob die Brauen und sah seinen Herrn zweifelnd an, als frage
     er sich, ob dieses gehässige Zitat begründet sei.
Il bello muto
hatte einen großen Vorzug gegenüber allen anderen Personen in Montaltos Diensten. Da er seine abweichende Meinung nur mimisch
     ausdrücken konnte, war es für Seine Eminenz leichter, ihm zu vergeben.
    |44| Obwohl von dem Juvenal-Zitat des Kardinals im höchsten Maße schockiert – denn nach meiner Meinung war es weder durch Vittorias
     Ruf noch durch ihr Betragen gerechtfertigt –, bewahrte ich eine unbeteiligte Miene, denn ich wollte nicht erneut zum Gegenstand
     von Montaltos Unzufriedenheit werden. Der arme Francesco, der wahrscheinlich aufgesprungen wäre, hätte er Latein verstanden,
     spürte offenbar die Gefahr. Seine farblosen Augen bewegten sich in ihren Höhlen wie unruhige kleine Tiere und wanderten von
     einem zum anderen, als flehe er um eine Erklärung für diesen Satz Montaltos und das darauffolgende Schweigen.
    Das Schweigen wurde durch Vittoria gebrochen. Sie hob ihren Kopf mit jenem bescheidenen und doch stolzen Ausdruck, der mich
     von Anfang an so beeindruckt hatte, richtete ihre leuchtenden Augen auf den Kardinal und sagte sanft:
    »Reverendissime pater, Juvenalis errat. Mihi concordia est.«
1
    »Wie?« schrie Montalto verblüfft. »Ihr versteht Latein, Vittoria ?«
    »Ja, Euer Eminenz«, sagte sie schlicht und ohne sich hervorzutun, weil sie ihm im gleichen Versmaß geantwortet oder, wie Calvin
     in seiner »Predigt über das Buch Hiob« brutaler sagte, »ihm das Maul gestopft« hatte.
    Der Kardinal schwieg, doch dieses neuerliche Schweigen war von anderer Art. Obwohl Montaltos furchteinflößende Miene undurchdringlich
     schien, mußte er jetzt wohl einen Rückzieher machen. Es war schwierig für ihn geworden, aus Vittorias langem Haar auf ihren
     kurzen Verstand zu schließen.
    Montaltos Strenge entsprang seinen strikten Prinzipien und nicht irgendeiner Geistesarmut. In Wirklichkeit liebte er schöne
     Gärten, Skulpturen und Gebäude. Seine weltliche Bildung war genauso umfassend wie seine Gelehrsamkeit in Glaubensdingen. Und
     was die Frauen anbelangte, war er durchaus empfänglich für ihre Schönheit, auch wenn er in ihrer Weiblichkeit eine Gefahr
     für das Seelenheil witterte, was die theologische Begründung für seinen Frauenhaß war. Nur hätte er die

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